Identität (German Edition)
den Hayden ihm geschickt hatte: Erinnerst Du Dich an den Großen Turm von Kallupilluk? Das könnte meine letzte Ruhestätte werden, Miles. Gut möglich, dass Du nie wieder von mir hörst.
«Er hat das alles für mich zurückgelassen», sagte Miles leise. «Wahrscheinlich hat er geglaubt, ich würde verstehen, was es bedeutete.»
Da er Hayden kannte, vermutete Miles, dass jeder einzelne Gegenstand im Zimmer eine eigene Botschaft darstellte, jede Plastik und jedes Diorama eine Geschichte erzählen sollte. Da er Hayden kannte, wusste er, dass jedes Objekt mit einer solchen Sorgfalt angefertigt worden war, als ob ihm einst die Aufmerksamkeit zuteilwerden würde, die ein Altertumsforscher einem Hort von lange verschollenen Schriftrollen widmen würde.
Und – Miles vermutete, dass er die tiefere Aussage des Ganzen verstand. Oder zumindest konnte er sie deuten – so wie Wahrsager in den zufälligen Handlinien eines Menschen oder der Anordnung der Stäbchen des I-Ching eine Geschichte entdeckten; so wie Mystiker überall geheime Mitteilungen entdeckten, Buchstaben in Zahlen und Zahlen in Buchstaben umwandelten – magische Zahlen in Bibelverse eingebettet, Zaubersprüche, die sich in der unendlichen Dezimalreihe der Zahl Pi entdecken ließen.
Wäre es eine Lüge gewesen zu sagen, dass sich in diesem Durcheinander von Dioramen und Plastiken und Mobiles eine Erzählung finden ließe? Wäre es unwahrhaftig gewesen? Würde er sich dadurch von einem Therapeuten unterscheiden, der Traummaterial – Landschaften, Gegenstände und zufällige, surreale Ereignisse – nimmt und irgendeinen Sinn in es hineinliest?
«Es ist der Abschiedsbrief eines Selbstmörders», sagte Miles endlich, sehr sanft, und er zeigte auf die aufgeschichteten Steine, von deren Gipfel sich zwei Büroklammermännchen in die Tiefe stürzten.
«Das ist der Große Turm von Kallupilluk», sagte er, «… eine Geschichte, die wir uns als Kinder ausgedacht haben. Es ist ein Leuchtturm am äußersten Rand der Welt, und dorthin gehen die Unsterblichen, wenn sie bereit sind, aus diesem Leben zu scheiden. Sie stechen von der Küste jenseits des Leuchtturms in See und segeln hinaus in den Himmel.»
Er starrte konzentriert auf diese Dinge, die Hayden für ihn hinterlassen hatte, als sei jedes von ihnen eine Hieroglyphe, jedes ein Standbild aus einem Film, wie in den erzählenden Freskensequenzen aus der Antike.
Ja. Man konnte schon sagen, dass hier eine Geschichte erzählt wurde.
Wie Miles es sich zurechtlegte, waren sie im Herbst hier angekommen.
Hayden und Rachel. Sie waren verliebt gewesen, wie sie es auf dem Foto gewesen waren, das Lydia ihm gezeigt hatte. Hier war ein Ort, an dem sie sich, wie sie glaubten, würden verstecken können – nur kurz, nur bis Hayden die Dinge wieder ins Gleis gebracht hätte.
Sie hatten nicht geplant, lange zu bleiben, aber der Winter kam schneller als erwartet, und ehe es ihnen bewusstwurde, saßen sie in der Falle. Rachel – das konnte man aus dem Mobile da herauslesen, dem mit den Gänsedaunen und den bunten Glasscherben – war krank geworden. Sie war nach draußen gegangen, um sich das Polarlicht anzuschauen. Sie war eine romantische, nicht sehr lebenstüchtige Frau, eine Amateurfotografin – man sah die Filme in diesem Diorama dort drüben. Vielleicht ließen sie sich noch entwickeln, vielleicht waren es die Bilder, die sie in ihren letzten Tagen aufgenommen hatte –
Aber sie begriff nicht. Sie kapierte einfach nicht, dass in diesem Land selbst ein paar Minuten im Freien, in der Gewalt der Elemente, lebensgefährlich sein konnten. Da konnte man sie sehen, im Bett, delirierend, unter diesen Nägeln –
Und mittlerweile wurden die Lebensmittel knapp, und Hayden wusste nicht, wie lange es der Generator noch tun würde. Also hatte er für Rachel einen Schlitten gebaut, und er hatte sie in Decken und Mäntel gewickelt und war aufgebrochen. Er plante, zum südlichen Ende der Insel zu wandern. Es war ihre einzige Hoffnung.
«Nein», sagte Mr. Itigaituk, und er schüttelte zynisch den Kopf. «Das ist lächerlich. Sie hätten es nie geschafft. Es wäre unmöglich gewesen.»
«Das wusste er», sagte Miles. «Das ist die Bedeutung der Steine, dort drüben. Ihm war klar, dass keine Hoffnung mehr bestand, aber er wollte es trotzdem versuchen.» Miles sah Lydia an, die dagestanden und ausdruckslos zugehört hatte, während er erzählte. Während er interpretierte .
«Nein», sagte sie. «Das ergibt keinen Sinn. Wie
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