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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Erwähnung seiner Person würde archiviert und immer tiefer und tiefer unter eine Sedimentschicht von Informationen und Klatsch und Blogeinträgen geschoben werden, bis er praktisch völlig verschwunden war.
     
    Er dachte über seinen Vater nach.
    Sein Vater – sein Adoptivvater Owen – hatte während Ryans letzten Highschool-Jahres einige Stimmungsschwankungen durchgemacht, eine Art trübe Midlife-Crisis, und während für Ryans Mutter Colleges und was dazugehörte zur fixen Idee und Ganztagsbeschäftigung wurden, hatte Owen wortlos zugeschaut. Er hatte sich den tiefen Seufzer angewöhnt, und dann fragte Ryan immer:
    «Was?»
    Und er antwortete: «Ach … nichts.» Seufz.
    Eines Abends standen sie in der Küche und spülten gemeinsam Geschirr, während seine Mom sich im Wohnzimmer ihre Lieblings-Comedysendung anschaute, und Owen gab wieder eine seiner melancholischen Exhalationen von sich.
    Ryan war gerade dabei, die Teller abzutrocknen und in den Schrank zu räumen, und fragte: «Was?»
    Owen schüttelte den Kopf. «Ach … nichts», sagte er, und dann verharrte er kurz in stummer Betrachtung der Auflaufform, die er gerade schrubbte. Er zuckte die Achseln.
    «Es ist idiotisch», sagte Owen. «Ich dachte nur gerade: Wie oft werden wir in meinem Leben hier wohl noch beisammenstehen und Geschirr spülen?»
    «Mhm», sagte Ryan, da Geschirrspülen nicht direkt zu den Dingen gehörte, die er dereinst vermissen würde. Aber ihm war bewusst, dass Owen gerade mitten in irgendeiner morbiden Hochrechnung steckte.
    Owen verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß. Zog eine Grimasse, während er ein störrisches Stück Nudel abzukratzen versuchte. «Ich schätze», sagte er, «ich werde nicht mehr viel von dir zu sehen bekommen, sobald du erst mal auf dem College bist. Das ist alles.»
    Und nach einer kurzen Pause: «Ich sehe dir doch an, wie ruhelos du bist, Kumpel. Und es ist nichts daran auszusetzen. Ich wünschte einfach, ich wäre so ruhelos gewesen, als ich in deinem Alter war. Bei dem Leben, das ich führe, werde ich es wahrscheinlich nicht mal schaffen, vor meinem Tod noch einen Ozean zu sehen. Aber ich wette, du wirst sie alle sehen. Die sieben Meere und alle Kontinente, und du solltest nur wissen, dass ich das für eine ganz tolle Sache halte.»
    «Vielleicht», hatte Ryan damals gesagt und dann gespürt, wie er sich zu einer unbehaglichen Förmlichkeit versteifte, peinlich berührt von Owens Selbstherabsetzung, von seinem rührseligen, midlife-kriselnden Selbstmitleid. «Ich weiß nicht», sagte Ryan. «Ich bin sicher, es gibt noch genug Geschirr, das wir gemeinsam spülen können», sagte er leichthin.
     
    Aber wenn er zurückdachte, musste er einfach bei solchen Momenten verweilen: der Küche im Haus in Council Bluffs, dem Geschirr in der Spüle, bestimmten Besteckteilen, die er abgetrocknet hatte und an die er sich nun mit unerklärlicher Zärtlichkeit erinnerte, bestimmte Teller –
    Das ganze Zeug , das er zurückgelassen hatte. Die schwarze Takamine-Elektroakustik-Dreadnaught-Gitarre, die Owen und Stacey ihm zum Geburtstag geschenkt hatten; das Notizbuch voller Tabs und Texte für Songs, die er zu schreiben versuchte; sogar die Mix-CDs, die er selbst zusammengestellt hatte, diese unglaublichen Mixe, die er so wahrscheinlich nicht wieder hinkriegen würde. Es war albern, dass sich ein kindisches, morbides Gefühl wie von Heimweh einstellte, wenn er an diese Gitarre dachte; oder wenn er an seine Schildkröte Veronica dachte, die nicht einmal ein richtiges Haustier war. Was scherte sie sich um ihn, was für Erinnerungen hatte sie schon?
    All diese Dinge, die in sich so etwas wie Avatare waren – die sein altes Ich, sein früheres Leben, in sich bargen.
     
    Okay , dachte er. Er saß da und starrte auf den Monitor, auf das Foto und den Nachruf aus dem Daily Nonpareil von Council Bluffs. Okay.
    Das Leben, das er bis dahin geführt hatte, war tatsächlich aus und vorbei.
    Man würde nie wieder etwas von ihm sehen oder hören. Nicht von ihm als er selbst jedenfalls.

12
    LUCY UND GEORGE Orson gingen die unbefestigte Straße entlang, die zum Becken des ehemaligen Sees führte. In Nebraska herrschte nach wie vor Dürre. Es hatte seit Gott weiß wie lange nicht mehr geregnet, und an den Rändern ihrer Fußsohlen stiegen Staubwölkchen auf.
    Wieder war eine Woche vergangen, und noch immer deutete, trotz George Orsons Beteuerungen, nichts darauf hin, dass sie in absehbarer Zeit weiterziehen würden. Irgendetwas

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