Identität (German Edition)
war schiefgelaufen, dachte Lucy. Es musste ein Problem mit Geld geben, auch wenn er es nicht zugeben wollte. «Keine Sorge», sagte er ihr immer wieder. «Alles läuft nach Plan, nur ein bisschen langsamer, als ich dachte, ein bisschen – widerspenstiger.» Aber dann lachte er auf seine düstere Art, was sie gar nicht beruhigte. Es klang so überhaupt nicht nach ihm.
Seit einer knappen Woche war George Orson nicht mehr derselbe. Und das nach eigenem Eingeständnis: «Es tut mir leid», sagte er ihr immer, wenn er mal wieder geistig nicht da war, wenn er in eine ferne Galaxie abtrieb, in einer Trance privater Berechnungen versank.
«George», sagte sie dann, «woran denkst du? Woran denkst du jetzt, in diesem Moment?»
Und seine Augen stellten sich wieder scharf. «An nichts», sagte er dann. «Nichts von Bedeutung. Ich bin einfach ein bisschen neben der Kappe. Ich glaub, seit ein paar Tagen bin ich nicht so richtig ich selbst –»
Was, wie sie wusste, natürlich nur so eine Redensart war, aber trotzdem ging sie ihr nicht mehr aus dem Kopf. Nicht er selbst , dachte sie, und tatsächlich war ein gewisser Abbau festzustellen – als ob er ein Schauspieler wäre, der dabei war, die innere Motivation seiner Rolle aus den Augen zu verlieren. Selbst sein Akzent, fand sie, schien sich leicht verändert zu haben. Seine Vokale wurden schlaffer – oder bildete sie sich das nur ein? –, und seine Aussprache war insgesamt nicht mehr so klar und elegant.
Sicher war es nur natürlich, dass seine Stimme entspannter wurde, jetzt wo er kein Lehrer mehr war, sich nicht mehr vor einer Klasse produzieren musste. Und es war auch natürlich, dass sich ein Mensch, wenn man ihn erst mal richtig kennenlernte, als etwas anders entpuppte. Niemand war genau so, wie man es anfangs von ihm gedacht hätte.
Und trotzdem hatte sie angefangen, mehr auf solche Dinge zu achten. Vielleicht, dachte sie, war es ihre eigene Schuld, wenn sie nicht wusste, was los war. Sie hatte schon zu viele Tage in einer Traumwelt zugebracht, fast zwei Wochen lang nur Filme geguckt, gelesen, sich Reisen ausgemalt. So sehr hatte sie sich auf Orte konzentriert, die sie in der Zukunft besuchen würden, dass sie nicht auf das geachtet hatte, was in der Gegenwart passierte.
Zum Beispiel: Sie war am Morgen ins Bad gekommen, und George Orson stand über das Waschbecken gebeugt, und als er aufschaute, sah sie, dass er sich den Bart abrasiert hatte. Ja, im ersten Moment erkannte sie ihn gar nicht wieder, es war so, als ob da ein Fremder stünde, und sie hatte regelrecht nach Luft geschnappt, war regelrecht zurückgezuckt.
Und dann sah sie seine Augen, seine grünen Augen, und das Gesicht hatte sich wiederhergestellt: George Orson.
«Mein Gott, George», sagte sie und legte sich die Hand an die Brust. «Hast du mich erschreckt! Ich hab dich kaum erkannt.»
«Hmm», sagte George Orson übellaunig. Er lächelte nicht, milderte nicht einmal seinen Gesichtsausdruck, sondern starrte lediglich hinunter ins Waschbecken, wo seine Barthaare ein Nest gebildet hatten.
«Tut mir leid», sagte er zerstreut und fuhr sich mit den Fingern unter die Augen, dann mit den Handflächen über seine nackten Wangen. «Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe.»
Lucy sah ihn, dieses neue Gesicht, verunsichert an. Waren das – hatte er geweint?
«George», sagte sie, «gibt’s ein Problem?»
Er schüttelte den Kopf. «Nein, nein», sagte er. «Nur – ich dachte, es wär Zeit für eine Veränderung, das ist alles.»
«Du wirkst irgendwie durcheinander», sagte sie.
«Nein, nein», sagte er. «Ist bloß so eine Stimmung. Das gibt sich schon wieder.»
Er musterte sich weiter im Spiegel, und sie stand weiter zögernd in der Badezimmertür und betrachtete ihn argwöhnisch dabei, wie er die Schere hob und sich eine Haarsträhne abschnitt, direkt über dem Ohr.
«Weißt du», sagte sie, «das ist keine so tolle Idee, sich selbst die Haare zu schneiden. Das kann ich dir aus eigener Erfahrung sagen.»
«Hmm», sagte er. «Du weißt, was ich dir schon immer gesagt habe. Ich halte nichts von Bedauern.» Er hob das Kinn, betrachtete prüfend sein Profil, so wie eine Frau ihr Make-up überprüfen würde. Dann schnitt er sich selbst eine Grimasse. Lächelte. Dann versuchte er, überrascht auszusehen.
«Bedauern ist müßig», sagte er endlich. «Dennoch ist die Menschheitsgeschichte ein einziges langes Bedauern. Alles hätte auch ganz anders kommen können.»
Er schenkte seinem
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