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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Spiegelbild ein kleines wehmütiges Lächeln.
    «Ist ein guter Spruch, nicht?», sagte er. «Charles Dudley Warner, ein vielseitig zitierbarer alter Knacker. Freund Mark Twains. Kennt heutzutage kein Mensch mehr.»
    Mit einer langsamen, wiederkäuenden Bewegung der Schere schnitt er sich eine weitere Haarsträhne ab, diesmal an der anderen Seite des Kopfes.
    «George», sagte sie, «komm her und setz dich. Lass mich das machen.»
    Er zuckte die Achseln. Seine Stimmung, oder was immer es auch gewesen sein mochte, verflog allmählich. Das Zitat, vermutete sie, hatte ihn aufgeheitert, die Möglichkeit, irgendeine Berühmtheit anzuführen und eine wohlklingende Plattitüde von sich zu geben. Das machte ihn glücklich.
    «Okay», sagte er endlich. «Nur leicht stutzen. An jeder Seite ein bisschen.»
     
    Und so schlenderten sie jetzt, ein paar Stunden später, schweigend nebeneinanderher, und George Orson hatte ihre Hand genommen, während sie den Hang hinunterstiegen, entlang der Reifenspuren, die noch immer tief in den Boden eingegraben waren, obwohl es offensichtlich schon lange her war, dass hier zuletzt ein Wagen durchgefahren war.
    «Hör mal», sagte er endlich, nachdem sie eine ganze Weile kein Wort gesagt hatten. «Ich wollte dir nur für deine Geduld danken. Ich weiß, dass du enttäuscht bist und dass es Dinge gegeben hat, die ich dir nicht erklären konnte, so gern ich es auch getan hätte. Es gibt einfach Elemente, über die ich mir selbst noch nicht vollständig im Klaren bin.»
    Sie wartete darauf, dass er weiterredete, aber er schwieg. Er ging einfach nur immer weiter, und seine Finger spielten beruhigend auf ihrer Handfläche.
    « Elemente? », sagte sie. Sie hatte ihre Sonnenbrille vergessen, während er an seine gedacht hatte, und jetzt starrte sie genervt auf die dunklen spiegelnden runden Gläser, die seine Augen verbargen. «Ich weiß noch immer nicht, wovon du eigentlich redest.»
    «Ich weiß», sagte er und neigte reuig den Kopf, «es klingt absolut blödsinnig, und es tut mir wirklich leid. Ich weiß, dass du nervös bist, und ich könnte es dir nicht verdenken, wenn du mit dem Gedanken spielen würdest, einfach – zu packen und zu verschwinden. Ich meine, ich bin dir dafür dankbar, dass du das nicht schon längst getan hast. Das wollte ich dir nur sagen: Ich bin dir aufrichtig dankbar für dein Vertrauen.»
    «Hmm», sagte Lucy. Aber sie gab keine Antwort. Sie war nie der Typ gewesen, der sich mit vagen Versicherungen abspeisen ließ. Hätte ihr zum Beispiel ihre Mutter eine solche Rede mit dieser vernünftigen, mild hoffnungsvollen Stimme gehalten, wäre Lucy unweigerlich in Rage geraten. Es gab ganz offensichtlich jede Menge Dinge, über die sie sich Sorgen machen konnte, und es war absurd, dass sie seit zwei Wochen hier festsaßen und er ihr noch immer nicht erklärt hatte, was er eigentlich vorhatte. Sie hatte ein Recht, Bescheid zu wissen! Wo sollte das Geld herkommen? Inwiefern war es «widerspenstig»? Worüber genau war er sich noch nicht «im Klaren»? Wenn ihre Mutter sie ohne ein Wort der Erklärung ans Ende der Welt geschleppt hätte, dann hätten sie sich ständig in den Haaren gelegen.
    Aber sie sagte nichts.
    George Orson war nicht ihre Mutter, sollte er auch gar nicht sein. Sie wollte nicht, dass er sie so sah, wie ihre Mutter sie gesehen hatte. Görenhaft. Anstrengend. Vorlaut. Besserwisserisch. Unreif. Ungeduldig. Das waren einige der Eigenschaften, die ihr ihre Mutter im Laufe der Jahre vorgeworfen hatte.
    Und eben an die Worte ihrer Mutter dachte sie, wenn er endlich, am späten Nachmittag, aus dem «Herrenzimmer» herauskam. Sie verbrachte ihre Tage damit, sich langweilige alte Filme anzuschauen, zu lesen, Patiencen zu legen, durchs Haus zu wandern und so weiter, aber wenn er sich dann endlich blicken ließ, gab sie sich alle Mühe, nicht gereizt zu wirken.
    «Ich mach dir heute ein wunderbares Abendessen», versprach George Orson ihr dann. « Ceviche de pescado . Du wirst hin und weg sein.»
    Und Lucy wandte die Augen von My Fair Lady ab, den sie gerade zum zweiten Mal sah, als sei sie ganz in den Film vertieft gewesen. Als habe sie nicht den größten Teil des Tages in einem Zustand grauenhafter Panik zugebracht. Sie ließ es zu, dass er sich hinunterbeugte und ihr die Lippen auf die Stirn drückte.
    «Du bist meine Einzige, Lucy», flüsterte er.
    Sie wollte es gern glauben.
    Selbst jetzt noch, bei all ihrer Unsicherheit, waren da seine Finger, die auf die Mitte ihres

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