Identität (German Edition)

machen. Oder im Investmentbanking und Wertpapierhandel: Merrill Lynch, Goldman Sachs, Lehman Brothers, einem Laden von der Sorte. Sie konnte sich die blitzblanken Büros dort vorstellen, nichts als Glas und poliertes Holz und blaues Licht, vor den bodentiefen, von Wand zu Wand reichenden Fenstern eine in der Luft schwebende Skyline von Manhattan. Sie hatte sogar von den Websites der Firmen Infomaterial über Praktika und so weiter runtergeladen, obwohl es im Nachhinein klar war, dass die keine Highschool-Schülerinnen aus Ohio als Praktikantinnen annehmen würden.
    Ihre Mutter hatte der Idee überraschend ablehnend gegenübergestanden. «Ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte, eine Anwältin in der Familie zu haben», hatte sie heiter gesagt, «geschweige denn eine Bankerin.»
    «Mach dich nicht lächerlich», sagte Lucy.
    Und ihre Mutter hatte scherzhaft aufgeseufzt. «Ach, Lucy», sagte sie und zupfte ihren rosafarbenen Krankenhauskittel zurecht, machte sich bereit, gleich zur Arbeit aufzubrechen. Sie war eine einfache Krankenschwester, ohne Diplom; sie war nicht einmal auf einem richtigen College gewesen. «Bei diesen Sachen geht’s nur um ‹Was ist für mich drin?›. Es geht nur um Geld, Geld, Geld. Das ist doch keine Art zu leben.»
    Lucy schwieg einen Moment lang. Dann sagte sie, leise: «Mutter, du weißt nicht, wovon du redest.»
     
    Jetzt, wo sie und George Orson sich dem alten Pier näherten, spielte sie schon wieder mit dem Gedanken zu gehen, malte sich das Flugzeug aus, das abhob und Kurs auf nichts nahm – wie ein Comic-Flugzeug, das aus der Heftseite hinausflog und einfach verschwand.
    Oder aber, sie konnte bleiben.
    Sie musste ihre Optionen klug abwägen. Ihr war klar, dass George Orson in irgendwelche illegalen Aktivitäten verwickelt war; dass es vieles gab, was er ihr nicht gesagt hatte, jede Menge Geheimnisse. Aber na und? Es war doch gerade dieses Geheimnistuerische, was sie gleich zu Beginn an ihm angezogen hatte, warum es bestreiten? Und solange das Geld selbst echt war, solange dieser Teil der Situation geregelt werden konnte …
    Sie hatten das Ende der Straße erreicht, dort stand ein Gebäude. Ein schlichter kastenförmiger Holzrahmenbau mit einem Schild, und darauf in antiquierten Buchstaben: GEMISCHTWAREN UND BENZIN. Darunter wurden verschiedene Angebote angepriesen: KÖDER … EISCREME … SANDWICHES … GETRÄNKE …
    Das Geschäft sah so aus, als sei es seit den Tagen des Pony Express geschlossen gewesen. Es war die Art von Laden, vor dem in alten Western immer die Postkutsche hielt.
    Aber inzwischen hatte sie begriffen, dass es hier draußen nun einmal so war. Der trockene Wind, das raue Klima, der Staub. Da verwandelte sich alles schnell in ein Museumsstück.
    George Orson stand mit zur Seite geneigtem Kopf da und lauschte der knarrenden Aufhängung eines alten Schilds, das für Zigaretten warb. Sein Gesicht war ausdruckslos, die Ladenfront nicht minder. Die Fenster waren zerbrochen und mit Pappstücken geflickt, und etwas Müll, eine ausgebleichte Schokoriegelhülle, ein Styroporbecher und trockenes Laub und so was, führte auf dem ölfleckigen Asphalt einen Rundtanz auf. Die Zapfsäulen standen einfach stumm herum.
    «Hallo? Ist jemand da?», rief George Orson.
    Er wartete, fast hoffnungsvoll, als könnte wirklich jemand antworten, eine gespenstische Stimme vielleicht.
    « Sdrawstwujtje?» , rief er. Sein alter Witz. « Konnichiwa? »
    Er nahm eine Zapfpistole vom Haken an der Seite einer der Tanksäulen und drückte versuchsweise auf den Auslöser. Natürlich passierte nichts.
    «So wird das Ende der Zivilisation aussehen», sagte George Orson. «Glaubst du nicht?»
    Als George Orson ein Kind war, war der See – der Stausee – das größte Gewässer in der Region gewesen. Zweiunddreißig Kilometer lang, sechseinhalb Kilometer breit, am Staudamm zweiundvierzigeinhalb Meter tief.
    «Das musst du dir mal vorstellen», sagte George Orson zu Lucy. «Die Leute kamen von überall her, von Omaha, Denver; sie fuhren hundertfünfzig Kilometer weit, um herzukommen. Als ich ein Kind war, war es unglaublich hier. Kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen, aber hier tobte das Leben. Ich erinnere mich, wie es war, als man von der Dammkrone aus nicht mal das Ende des Sees sehen konnte. Einfach gigantisch, ganz besonders für einen armen Jungen aus Nebraska, der nie einen Ozean gesehen hatte. Jetzt sieht das aus wie Bilder, die man vom Irak kennt. Ein Geologe, mit dem