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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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ich befreundet bin, hat mir erzählt, dass der Euphrat austrocknet, und mir Bilder gezeigt, und es sah exakt so aus.»
    «Hmm», sagte sie.
    Das war so eins der Themen, über die er gern redete. Ein Geologe, mit dem ich befreundet bin – ohne Zweifel jemand, den er, in grauer Vorzeit, in Yale kennengelernt hatte. Er kannte alle möglichen Leute, alle möglichen Geschichten und Kuriosa, mit denen er gelegentlich aufwartete, um sie zu beeindrucken, und die sie zugegebenermaßen auch ganz schön beeindruckend fand. Liebend gern hätte sie selbst Leute gekannt, die später Geologen und berühmte Schriftsteller und Politiker würden, so wie es bei George Orsons Kommilitonen der Fall war.
     
    Lucy hatte sich bei drei Colleges beworben: Harvard, Princeton und Yale.
    Das waren die einzigen Universitäten, für die sie sich interessierte, die berühmtesten Universitäten , hatte sie gedacht, die wichtigsten –
    Und sie konnte sich im Geist durchaus auf den Campus jeder einzelnen von ihnen projizieren, zu Füßen der Statue von John Harvard vor der University Hall mit ihren Büchern unter dem Arm über den McCosh Courtyard in Princeton hastend, oder in New Haven die Hillhouse Avenue, laut den Broschüren «die schönste Straße Amerikas», entlanggehend, auf dem Weg zu einem Empfang im Haus des Universitätspräsidenten –
    In ihrer Anfangszeit hätte sie scheu gewirkt. Sie hätte zwar keine schönen Sachen zum Anziehen gehabt, aber das wäre gleichgültig gewesen. Sie hätte sich schlicht gekleidet, in dunkle, bescheidene Ensembles, die unter Umständen sogar geheimnisvoll gewirkt hätten. Auf jeden Fall hätte es nicht lange gedauert, bis man – so wie George Orson – auf ihren scharfen Verstand, ihr untrügliches Gespür für das Absurde, ihre treffenden Beiträge im Unterricht aufmerksam geworden wäre. Ihre Zimmergenossin, dachte sie, wäre wahrscheinlich irgendeine Erbin gewesen, und wenn Lucy schließlich schüchtern verraten hätte, dass sie eine Waise war, wäre sie vielleicht dazu eingeladen worden, die Ferien in den Hamptons oder auf Cape Cod, oder an anderen Orten dieser Art zu verbringen –
    Derlei Phantasien hätte sie George Orson nicht erzählen können. Er hatte eine sehr kritische Einstellung zu seinem Ivy-League-Studium, ungeachtet der Tatsache, dass er es häufig erwähnte. Er hielt einfach nicht viel von den Leuten, denen er begegnet war. «Diese groteske Zurschaustellung von Privilegiertheit», sagte er. «All die Prinzen und Prinzessinnen, die sich herausputzen und in Szene setzen, während sie darauf warten, den ihnen gebührenden Platz am Anfang der Schlange einzunehmen. Gott, wie die mich angekotzt haben!»
    Solche Dinge erzählte er ihr, nachdem sie miteinander etwas angefangen hatten, damals, während des Frühlingssemesters ihres letzten Highschool-Jahres, und sie lag von ihm abgewandt in seinem Bett und versuchte sich bewusstzumachen, dass sie wahrscheinlich mit ihm würde Schluss machen müssen, wenn sie erst mal nach Massachusetts oder Connecticut oder New Jersey fuhr. Wenn erst die Aufnahmebestätigungen kämen, würde sie es ihm sagen müssen. Es täte zwar weh, aber letztlich wäre es wahrscheinlich das Beste.
    Ein paar Tage später war die erste Ablehnung hereingeschneit. Sie hatte sie vorgefunden, als sie von der Schule heimgekehrt war – Patricia war auf der Arbeit –, und dann saß sie da am Küchentisch und spürte, wie die Sammlung von Precious-Moments- Figurinenihrer Mutter auf sie herabstarrte: rundköpfige Porzellankinder mit großen Augen, dafür praktisch ohne Nase und Mund, die zusammen ein Buch lasen oder auf einem riesigen Törtchen saßen, oder ein Hündchen in den Armen hielten. Allesamt in einem Plastik-Setzkasten angeordnet, den ihre Mutter in einem Drugstore gekauft hatte. Sie strich den Brief vor sich glatt. Der Absender erklärte, er wünschte, er könne ihr eine erfreulichere Entscheidung mitteilen. Er wünschte, es wäre möglich, sie aufzunehmen. Er wünschte ihr alles Gute für die Zukunft.
    Rückblickend wusste sie selbst nicht, warum sie so zuversichtlich gewesen war. Sicher, sie hatte in fast allen Fächern Einsen gehabt – ihr Notendurchschnitt war lediglich durch ein paar Semester mit Zwei plus in Französisch gedrückt worden, was sie der sanften, aber unnachgiebigen Mme. Fournier zu verdanken hatte, die nie mit ihrem Akzent oder ihrer Aussprache zufrieden gewesen war. Sie war pflichtbewusst allen möglichen Clubs beigetreten – der National Honor

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