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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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sodass niemand hätte sehen können, wie er da stand und hinausschaute. Es war ein Stadtpanorama, das aussah, als habe es sich jemand ausgedacht – Gebäude, die als Umschlagbild für einen dieser Fantasy-Romane hätten dienen können, die er auf der Highschool so gern gelesen hatte, oder digitale Simulationen aus einem aufwendigen SF-Film. Er könnte sich leicht vorstellen, dass er auf einem anderen Planeten gelandet oder in die Zukunft gereist war, legte eine Hand auf die Glasscheibe und überließ sich diesen angenehmen, beruhigenden Phantasien.
    Die ganze Außenwand seines Hotelzimmers war ein einziges Fenster, und bei aufgezogenen Vorhängen konnte er da am äußersten Rand des Gebäudes stehen und sich wie ein Schwimmer auf dem Sprungbrett fühlen.
    «Hallo?», sagte Jay, und Ryan schwieg kurz.
    «Hey», sagte er dann.
    «Hey», sagte Jay. Und dann folgte eine erwartungsvolle Pause. Ryan durfte nur in dringenden Fällen anrufen, aber wie es aussah, war Jay zu angeheitert – beziehungsweise wahrscheinlich zu stoned –, um Ryans Besorgnisse ernst zu nehmen. Manchmal war es komisch, sich vorzustellen, dass Jay tatsächlich sein Vater war, komisch, sich vorzustellen, dass Jay selbst erst fünfzehn war, als Ryan geboren wurde. Und auch jetzt sah er nicht alt genug aus, um einen zwanzigjährigen Sohn haben zu können. Er wirkte nicht viel älter als dreißig. Da war es schon vernünftiger, dachte Ryan oft, ihn sich als Onkel vorzustellen.
    «Also …», sagte Jay. «Was gibt’s?»
    «Ich wollte mich nur kurz melden», sagte Ryan. Er nahm das Handy ans andere Ohr. «Hör mal», sagte er, «hast du mir grad eine IM geschickt?»
    «Hm», sagte Jay. «Ich glaub nicht.»
    «Oh», sagte Ryan.
    Er hörte das Gluckern einer Bong, als Jay Rauch inhalierte, und dann das arrhythmische Klacken einer Tastatur, auf der Jay etwas tippte.
    «Und, wie gefällt dir Las Vegas?», sagte Jay nach einer Pause.
    «Gut», sagte Ryan. «Bislang gut.»
    «Ist ganz schön irre, nicht?», sagte Jay.
    «Stimmt», sagte Ryan, und er schaute hinunter in die schummrige Weite der Stadt. Unter ihm schob sich eine Reihe von Taxis wie eine Horde Rinder langsam die Auffahrt zum Hoteleingang hinauf, während die Anzeigetafel neben dem Gebäude auf einem riesigen LED-Schirm in schnellem Wechsel Bilder von allerlei Gesangs- und Comedystars zeigte und hoch über der Diamantkette von Autoscheinwerfern auf dem Las Vegas Boulevard flimmerte –
    «Es ist –», sagte er.
    – und in der anderen Richtung, wenn man sich vom Strip abwandte, lag, direkt hinter dem alten, geschlossenen Hof-Motel auf der anderen Straßenseite, der Flughafen. Man sah einen Streifen kahlen Wüstenboden und ein paar Ladenzeilen und Häuser, die sich in platten Flächen in Richtung der Berge hinzogen.
    «Es ist toll», sagte er.
    «Kannst du die Freiheitsstatue sehen?», fragte Jay. «Kannst du den Stratosphere Tower sehen?»
    «Ja», sagte Ryan. Er sah sein Spiegelbild, das direkt jenseits der Fensterscheibe in der Luft schwebte.
    «Ich liebe Vegas», sagte Jay, und dann schwieg er nachdenklich. Vielleicht ließ er sich die Punkte durch den Kopf gehen, die er und Ryan besprochen hatten, fragte sich, ob er sie wiederholen sollte – dann räusperte er sich aber nur.
    «Die Hauptsache ist», sagte Jay, «dass du dich gut amüsierst. Ich möchte, dass du ein paar Nummern schiebst, okay?»
    «Okay», sagte Ryan.
    Hinter ihm, auf dem Bett, lagen die jeweils in Zehnerpacken mit Gummibändern verschnürten Bankcards.
    «Das ist mein Ernst», sagte Jay. «Was dir fehlt, ist ein ordentlicher –»
    «Ja», sagte er. «Ich hab’s kapiert.»
     
    Es war April. Seit seinem Tod waren ein paar Monate vergangen, und er kam inzwischen ganz gut damit klar. Er hatte seine Kübler-Ross-Phasen wohl mehr oder weniger abgearbeitet. Tatsächlich hatten sich das Nicht-wahrhaben-Wollen und das Verhandeln in Grenzen gehalten, und der Zorn fühlte sich gar nicht so schlecht an. Es bereitete ihm Vergnügen zu stehlen, es verschaffte ihm ein schönes, warmes Gefühl, Geld von einem falschen Bankkonto auf ein anderes zu transferieren, eine neue Kreditkarte in der Post zu finden.
    Er ging ins Badezimmer, trug Klebstoff auf seine nackte Kopfhaut auf und strich sich dann die strubbelige blonde Kasimir-Czernewski-Perücke zurecht. Dann rasierte er sich und trocknete sich die Oberlippe, pinselte dann etwas Mastix darauf, sodass er sich den Schnurrbart ankleben konnte. Er musste zugeben, dass es Spaß machte,

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