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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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sie aus seinem Bewusstsein zu verdrängen, und umso lästiger war es, sie jetzt dort herumlungern zu sehen. Sie hatte eine bestimmte Art, Nase und Lippen an seinen Hals, direkt unter der Kinnlade, zu drücken; eine bestimmte Art, ihm mit der Hand über den Arm zu streichen, als versuchte sie zu erreichen, dass seine Haut an ihrer Handfläche haften blieb.
    Es war nicht so, dass er in sie verliebt gewesen wäre. Das sagte später auch seine Mutter.
    «Es ist nur ganz gewöhnliche Lust, aber in deinem Alter erkennt man den Unterschied noch nicht.»
    Und wahrscheinlich hatte seine Mutter recht. Pixie war nicht das, woran er dachte, wenn er sich vorstellte, «sich zu verlieben» – und tatsächlich konnte er sich nicht erinnern, dass je das Wort «Liebe» zwischen ihnen gefallen wäre. Das war kein Wort, das Pixie in den Mund genommen hätte.
    «Ficken» – das passte schon eher in Pixies Vokabular, und das war es denn auch, was sie bereits wenige Wochen nach diesem ersten Gespräch im Proberaum gemacht hatten: Das erste Mal hatten sie, anlässlich einer Schulorchesterfahrt nach Des Moines, in einem Motelzimmer gefickt, dann nach der Schule, während ihr Dad auf der Arbeit war, bei Pixie zu Hause gefickt, und dann in der Schule, in einer Abstellkammer im Keller, neben dem Heizungsraum, auf Kartons voller Papierhandtücher gefickt.
    «Weißt du, was komisch ist?», sagte Pixie. «Mein Dad bildet sich echt ein, ich wär die unschuldige Jungfrau. Seit dem Tod meiner Mom ist er der reinste Zombie, der arme Kerl. Ich glaub, dem ist überhaupt nicht klar, dass ich keine zwölf mehr bin.»
    «Mann», sagte Ryan. «Deine Mom ist tot?» Er hatte noch nie jemand kennengelernt, der eine solche Tragödie erlebt hatte, und es machte ihn noch befangener, nackt in ihrem Zimmer zu sein, mit der kleinmädchenhaften rosa Tagesdecke und ihrer Sammlung von Beanie Bears, die von ihrem Regal aus auf sie hinunterstarrten.
    «Sie hatte irgendwas mit der Lunge», sagte Pixie und zog eine Packung Marlboro hervor, die in ihrem Bücherschrank hinter einem Harry Potter versteckt gewesen war. «Bronchiolitis obliterans heißt das. Keiner weiß, wo sie sich das geholt hat. Die meinten, sie wäre irgendwelchen giftigen Dämpfen ausgesetzt gewesen, oder es wäre von einem Virus gekommen. Aber kein Mensch wusste, was sie wirklich hatte. Die Ärzte sagten, sie hätte Asthma oder so gehabt.» Sie sah ihn kryptisch an, dann zog sie eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Sie beugte sich zum offenen Fenster und atmete den Rauch aus.
    «Das ist ja furchtbar», sagte er. Unsicher. Was sagte man in einer solchen Situation? «Das tut mir wirklich leid», sagte er.
    Doch sie zuckte nur die Achseln. «Ich hab eine Zeitlang daran gedacht, mich umzubringen», sagte sie. Und blies einen Faden von blaugrauem Rauch durch das Fliegenfenster, hinaus in den Garten. Dann musterte sie ihn sachlich. «Aber irgendwie bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es das nicht wert war. Das wäre viel zu existenzialistisch und weinerlich, find ich. Oder vielleicht …», sagte sie. «Vielleicht ist mir alles auch nur zu egal.» Sie lehnte sich zurück und knetete mit ihren nackten Füßen Laken und Decke, und er sah zu, wie ihre Zehen den Stoff immer wieder knüllten und losließen. Ihre Äußerungen hatten ihn ein bisschen verwirrt.
    «Hör mal», sagte er. «Du solltest nicht daran denken, dich umzubringen. Es gibt einen Haufen Leute, die – denen du etwas bedeutest, und …»
    «Halt die Klappe», sagte sie, aber nicht unfreundlich. «Sei kein Spasti, Ryan.»
    Also sagte er nichts mehr.
    Statt nach der Mittagspause wieder in die Schule zu gehen, blieben sie bei ihr und guckten sich Filme an, auf die Pixie stand. Erste Doppelstunde nach der Mittagspause: Der Tod eines Killers mit Lee Marvin und Angie Dickinson. Zweite Doppelstunde: Gefährliche Freundin mit Jeff Daniels und Melanie Griffith. Dritte Doppelstunde: wieder ficken.
    Das bilde ich mir nicht ein , dachte er. Das ist wirklich, wirklich, wirklich die Wirklichkeit –
     
    Die Hotels waren miteinander verbunden. Er durchquerte ein Kasino-Gewölbe und stieg auf eine Rolltreppe und mehrere Rollbänder, die von Souvenirläden gesäumte einkaufszentrenartige Korridore entlangflossen. Von dort aus gelangte er in die Nachbildung eines ägyptischen Grabes, dann in einen kaufhallengroßen Spielsaal, wo es galt, ein paar weitere Bankautomaten um etwas Geld zu erleichtern. Dann kam das Excalibur, das auf

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