Identität (German Edition)
sich zu verkleiden, in den Spiegel zu schauen und ein neues Gesicht zu sehen, das ihm entgegenblickte.
Schon seit langem, dachte er, hatte er sich mehr und mehr von sich entfernt – vielleicht schon seit Jahren hatte er sich Möglichkeiten ausgedacht, sich selbst zu entrinnen. Jetzt tat er es wirklich. Und in so einem Bad fühlte es sich sogar toll an: mit dem deckenhohen Spiegel, den schönen Porzellanwaschbecken, der versenkten Sprudelwanne, der Duschkabine mit der Tür aus mattiertem Glas, der separaten Toilette, in der, neben dem Klopapierspender, ein Telefon an der Wand hing. Es war alles sehr schick, dachte er, setzte seine Kasimir-Czernewski-Sonnenbrille auf und putzte sich die Zähne.
Ich möchte, dass du ein paar Nummern schiebst , hatte Jay gesagt.
Und er dachte: Okay. Vielleicht mach ich das .
Sex hatte Ryan das letzte Mal im vorletzten Highschool-Jahr gehabt, und die Folgen waren ziemlich drastisch gewesen.
Das Mädchen hieß Pixie, beziehungsweise wurde so genannt, und war mit ihrem Vater von Chicago nach Council Bluffs gezogen. Obwohl sie erst fünfzehn war, zwei Jahre jünger als er, war sie ein richtiges Großstadtmädchen – erheblich weltgewandter als Ryan.
Sie hatte ein Lippen- und ein Augenbrauenpiercing, wasserstoffblondgefärbtes Haar und dick mit Kajal umrandete Augen. Sie war knapp anderthalb Meter groß – deswegen auch «Pixie» statt, wie sie wirklich hieß, Penelope – und hatte einen Körper wie eine Putte oder ein kurvenreicher Teddybär: glatte, makellose olivenfarbene Haut, große Brüste und einen sinnlichen Mund. Noch vor Ende ihrer ersten Woche auf der Schule nannten sie alle den «Goth Hobbit», und Ryan hatte wie alle anderen darüber gelacht.
Deswegen hatte er nie genau verstanden, was sie eigentlich an ihm gefunden hatte. Er wusste lediglich, dass sie im Schulorchester hinter ihm saß. Er spielte Posaune und sie Trommel, und wenn er sich umdrehte, konnte er sie aus dem Augenwinkel beobachten. Das Erste, was ihm an ihr auffiel, war dieser Gesichtsausdruck, eine selig konzentrierte Aufmerksamkeit auf ihr Notenblatt, und die Weise, wie sich ihre Lippen öffneten und die Trommelstöcke sich in ihren Händen bewegten, als verschwendete sie keinen Gedanken an sie. Ihn faszinierte die anmutige Lockerheit ihrer Handgelenke und Unterarme. Und, ja, das leichte Zittern ihrer Brüste, wenn sie einmal richtig fest auf die Trommel schlug.
Und so konnte er sich nicht beherrschen und musste immer wieder unauffällig zu ihr hinschauen, bis sie eines Tages nach der Stunde, als er gerade dabei war, seine Posaune zu zerlegen und den Zug einzufetten, dastand und ihn mit schräggehaltenem Kopf anstarrte. Er hatte die Einzelteile in die entsprechenden Aussparungen des mit Samt ausgeschlagenen Instrumentenkoffers gelegt und schaute schließlich zu ihr auf.
«Kann ich dir helfen?», sagte er, und sie hob eine Augenbraue – die, in der ein dünner Metallring steckte.
«Das glaub ich kaum», sagte sie. «Ich hab mich bloß gefragt, ob es einen tieferen Grund gibt, warum du mich dauernd angaffst, oder ob du bloß autistisch bist oder was in der Art.»
Er war nicht sonderlich beliebt in der Schule und war es gewohnt, dass sich alle möglichen Leute über ihn lustig machten, also kniff er nur die Lippen zusammen und steckte die Reinigungsbürste in die Öffnung des Zugs. «Ich weiß nicht, wovon du redest», sagte er.
Und sie zuckte die Achseln. «Na dann gut, Archie», sagte sie.
Archie . Er wusste nicht, was das sollte, aber es gefiel ihm nicht. «Ich heiße Ryan», sagte er.
«Okay, Thurston», sagte sie und musterte ihn noch einmal, zweifelnd. «Kann ich dich was fragen?», sagte sie, und als er sich weiter mit seinem Instrument beschäftigte, lächelte sie mit herausfordernd geschürzten Lippen. «Kauft deine Mama dir die Klamotten, oder läufst du wirklich freiwillig so rum?»
Ryan sah von seinem Posaunenkasten auf und bedachte sie mit einem Blick, den er für besonders eisig hielt. «Kann ich dir irgendwie helfen?», fragte er.
Und Pixie ließ sich das sichtlich durch den Kopf gehen, als sei es ein ernst gemeintes Angebot. «Vielleicht», sagte sie. «Ich wollte dir nur sagen, dass, wenn du etwas aus dir machen würdest, du wahrscheinlich sogar was zum Ficken sein könntest.» Und lächelte ihn wieder so an, mit einem heruntergezogenen Mundwinkel – ein Gangstergrinsen.
«Ich dachte nur, das könnte dich interessieren», sagte sie.
Das ging ihm durch den Kopf, während
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