Identität (German Edition)
oder was?»
«Mach dich nicht lächerlich», hatte George Orson gesagt. «Das gehört einfach zu einer Beziehung unter erwachsenen Menschen dazu, Lucy. Dass man dem anderen seinen Freiraum lässt.»
«Ich möchte nur meine E-Mails checken», sagte sie – obwohl es in Wirklichkeit niemanden gab, der ihr geschrieben haben könnte, und er das natürlich wusste.
«Lucy, bitte», sagte er. «Lass mir nur noch ein paar Tage Zeit. Dann kaufe ich dir einen eigenen Computer, und du kannst nach Herzenslust mailen. Hab nur noch ein bisschen Geduld.»
Das Herrenzimmer war weit unordentlicher, als sie erwartet hatte. Es sah ganz und gar nicht nach George Orson aus – der ein Kleiderfalter und Listenersteller war, wie er im Buche stand, ein Mann, der Durcheinander und dreckiges Geschirr in der Spüle auf den Tod nicht ausstehen konnte.
Das also war eine Seite von George Orson, die sie noch nie erlebt hatte, und sie blieb verunsichert an der Schwelle stehen. Das Zimmer strahlte Hektik, Planlosigkeit, Panik aus. Auf jeden Fall bestand kein Zweifel daran, dass die unzähligen Stunden, die er hier eingeschlossen verbracht hatte, nicht untätig vertrödelt worden waren. Er hatte gearbeitet, genau wie er behauptet hatte.
Im Zimmer standen alle möglichen Geräte herum: mehrere Laptops, ein Drucker, ein Flachbettscanner, weitere Dinge, die sie nicht identifizieren konnte – alle durch ein Gewirr von Kabeln miteinander verbunden und an einer Mehrfachsteckdose angeschlossen. Die vorderen Ränder der Bücherborde waren mit leeren Getränkedosen – Cola und Energy-Drinks – gesäumt, und der Fußboden war mit schmutzigen Kleidungsstücken – einem Paar Boxershorts, drei, vier T-Shirts, einer einzelnen halb umgestülpten Socke – und vielen Schokoriegelhüllen übersät, obwohl sie George Orson noch nie hatte Süßigkeiten essen sehen. Hier und da lagen auch mehrere Bücher herum, prall gefüllt mit Lesezeichen, einzelne Seiten mit Haftnotizen markiert. Das heilige Pentagramm von Sedona . Fibonacci und die finanzielle Revolution . Das Ding auf der Schwelle . Eine praktische Einführung in den Mentalismus .
Und überall waren Papiere – zum Teil in Stößen, zum Teil zusammengeknüllt und weggeworfen, dazu einzelne Blätter, zu einer wirren Collage an die Wände geklebt. Die Schubladen des Aktenschranks, zu dem er angeblich den Schlüssel nicht finden konnte, waren alle herausgezogen worden, und die überquellenden Hängemappen waren hier und da im Zimmer zu Türmen gestapelt.
Man hätte das leicht für das Zimmer eines Irren halten können, und als sie eintrat, machte sich ein nervöses Kribbeln in ihrer Brust bemerkbar, ein glatter vibrierender Stein, der sich direkt unter ihrem Brustbein herausbildete.
«O George», hauchte sie, und sie konnte sich nicht entscheiden, ob es erschreckend oder traurig – oder anrührend war, daran zu denken, wie er Tag für Tag als der normale, vergnügte George Orson aus diesem Zimmer herauskam. Ordentlich gekämmt und lächelnd diesem Tsunami entstieg, um ein Abendessen für sie zu kochen und sie zu beruhigen, sich zusammen mit ihr, den Arm sanft um ihre Schultern gelegt, einen Film anzuschauen und die ganze frenetische Aktivität des Tages hinter der verschlossenen Tür des Herrenzimmers zurückzulassen.
Ihr war vollkommen klar, dass sie nichts anrühren durfte. Es war unmöglich zu erkennen, welches Ordnungsprinzip dem Ganzen zugrunde lag, auch wenn es so aussehen mochte, als gäbe es keines. Sie trat vorsichtig auf, als sei sie auf einem frisch zugefrorenen See oder an einem Tatort. Es war schon okay, was sie tat, sagte sie sich. Er hatte versprochen, ihr alles zu erzählen, und wenn er es nicht getan hatte, war es ihr gutes Recht, sich auf eigene Faust kundig zu machen. Es war nur fair, dachte sie, aber gleichzeitig drängten sich ihr, beklemmend, all die Märchen ins Bewusstsein, die ihr als Kind Angst gemacht hatten. Blaubart. Der Räuberbräutigam . All diese Horrorfilme, in denen Mädchen Zimmer betraten, die sie eigentlich nicht betreten durften.
Was, wie sie wusste, paranoid war. Sie glaubte nicht, dass George Orson ihr etwas antun würde. Sie anlügen, das ja, aber sie war sich sicher – hundertprozentig sicher –, dass er nicht gefährlich war.
Trotzdem schlich sie wie ein Eindringling vorwärts, und sie spürte im Handgelenk das Pochen ihres Pulses, während sie lautlos einen Fuß vor den anderen setzte, langsam einen Zickzackparcours abschritt und sich dabei
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