Identität (German Edition)
möglichst dicht an der Wand hielt.
Die mit Klebestreifen an den Wänden befestigten Blätter waren, wie sie sah, größtenteils Karten: Straßenkarten, Messtischblätter, Ausschnittvergrößerungen von Stadtplänen und äußerst detaillierte Darstellungen von Küsten. Nichts davon war für sie identifizierbar. Hier und da waren zwischen diesen Karten Nachrichtenmeldungen eingestreut, die George Orson aus dem Internet heruntergeladen und ausgedruckt hatte: 11 Personen in den USA wegen großangelegten Identitätsschwindels unter Anklage gestellt ; Keine neuen Entwicklungen im Fall des vermissten College-Studenten ; Versuchter Diebstahl von biologischen Kampfstoffen vereitelt. Sie überflog diese Schlagzeilen im Vorbeigehen, ohne stehenzubleiben, um die dazugehörigen Artikel zu lesen. Es waren zu viele; jede freie Wand des Zimmers war mit bedruckten A4-Blättern tapeziert. Vielleicht hatte er ja wirklich den Verstand verloren.
Und dann fiel ihr Blick auf den Tresor. Den Wandtresor, den er ihr gleich am Tag ihrer Ankunft gezeigt hatte, damals, als dieses Zimmer noch lediglich eines der vielen eingestaubten Sehenswürdigkeiten gewesen war, durch die er sie führte. Damals, als er ihr ungeniert erzählt hatte, er kenne die Kombination nicht.
Doch jetzt war der Tresor offen. Das Gemälde, das ihn verdeckt hatte, das Porträt von George Orsons Großeltern, war weggeklappt, und die dicke Metalltür des Tresors stand halb auf.
In einem Horrorfilm wäre das der Augenblick gewesen, in dem George Orson hinter ihr in der Tür erschienen wäre. «Was soll das eigentlich werden?», hätte er mit leiser Stimme geschnurrt, und sie spürte, wie ihr Nacken prickelte, obwohl niemand hinter ihr in der Tür stand und George Orson längst weggefahren und auf dem Weg in die Stadt war.
Unweigerlich ging sie auf den Tresor zu, denn er war voll Geld.
Die Banknoten waren gebündelt, genau so, wie man es im Fernsehen in Gangsterfilmen sah, und die einzelnen Bündel vielleicht männerfingerdick mit einem Gummiband umwickelt und zu ordentlichen Stapeln geschichtet. Sie streckte die Hand aus und nahm eines heraus. Hundert-Dollar-Scheine. Schätzungsweise bestand so ein Bündel aus vielleicht fünfzig Scheinen, und sie wog es in der offenen Hand. Es war leicht, nicht schwerer als ein Kartenspiel, und sie schurrte mit dem Daumen über den Schnitt, für einen Moment atemlos. Da lagen dreißig von diesen Päckchen: an die hundertfünfzigtausend Dollar, überschlug sie rasch und schloss die Augen.
Sie waren wirklich reich, dachte sie. Das zumindest stimmte. Trotz ihrer Zweifel, trotz des Chaos von Papieren und Müll, trotz der Bücher und Landkarten und Zeitungsartikel – war das zumindest sicher. Noch vor einer Minute, wurde ihr bewusst, war sie so gut wie davon überzeugt gewesen, dass sie George Orson würde verlassen müssen.
Ohne an irgendetwas zu denken, hielt sie sich das Geldbündel ans Gesicht, als sei es ein Blumensträußchen. «Danke», flüsterte sie. «Danke dir, Gott.»
16
SIE HATTEN vereinbart, sich in der Lobby des Mackenzie Hotel zu treffen, wo die Frau laut eigener Aussage wohnte. «Ich heiße Lydia Barrie», hatte sie ihm am Telefon gesagt, und als er ihr seinen Namen nannte, stutzte sie kurz .
«Miles Cheshire», wiederholte sie dann mit einem leicht skeptischen Unterton – als habe er ihr irgendeinen absurden Künstlernamen genannt. Als habe er behauptet, sein Name sei Mr. Breeze.
«Hallo?», sagte er. «Sind Sie noch dran?»
«Wir können uns in einer Viertelstunde treffen», sagte sie – ein bisschen steif, wie er fand. «Ich habe rotes Haar und trage einen schwarzen Mantel. Wir dürften keine Schwierigkeiten haben, uns zu finden.»
«Ah», sagte er. «Okay.»
Ihre Stimme klang so kurz angebunden, so seltsam geschäftsmäßig, dass er für einen Moment unsicher wurde. Als er seine Steckbriefe aufgehängt hatte, hatte er erwartet, dass sich bestenfalls der eine oder andere ortsansässige Jugendliche melden würde – vielleicht der Verkäufer vom Schnapsladen oder eine Kellnerin, oder ein neugieriger, wachsamer Rentner, oder irgendein Obdachloser, der auf die Belohnung aus war. Das waren die typischen Anrufer, mit denen er es normalerweise zu tun bekam.
Deswegen bereitete ihm ihr Eifer ein unangenehmes Gefühl.
Er hätte wahrscheinlich vorsichtiger sein müssen, dachte er. Er hätte wahrscheinlich gründlicher nachdenken sollen, bevor er ein Treffen vereinbarte, er hätte sich eine glaubhafte Legende
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