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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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zurechtlegen sollen.
    Alles Dinge, die ihm jetzt zu spät einfielen. Zu spät erinnerte er sich an den Brief, den Hayden ihm geschickt hatte: Du solltest Dir dessen bewusst sein, dass Dich möglicherweise jemand überwacht, und so ungern ich es sage, glaube ich, dass Du in realer Gefahr sein könntest , und jetzt dachte er, dass er Haydens Warnung vielleicht nicht so schnell hätte in den Wind schlagen dürfen.
    Aber die Frau war schon in die Lobby gekommen. Sie sah sich schon um, und er war der Einzige, der da stand. Er warf einen Blick über die Schulter, nach dem Mädchen an der Rezeption, das geradezu gierig telefonierte und der Frau, die jetzt auf ihn zukam, nicht die geringste Beachtung schenkte.
    «Miles Cheshire?», sagte sie – und wieder sprach sie seinen Namen mit einem Anflug von Skepsis aus –, und was blieb ihm jetzt anderes übrig? Er nickte und versuchte, auf eine Weise zu lächeln, die aufrichtig und entwaffnend wirken würde.
    «Ja», sagte er. Er trat von einem Fuß auf den anderen. «Danke, dass Sie gekommen sind», sagte er.
    Sie war, schätzte Miles, ein bisschen älter als er – zwischen fünfunddreißig und vierzig, nahm er an, eine dünne, auffällige Frau mit hohen Jochbeinen und einer scharfen Nase und glattem rotem Haar. Ihre Augen waren groß und grau und eindringlich, nicht direkt hervorstehend, aber so stechend, dass er sich verunsichert fühlte.
    Ihm war außerdem bewusst, wie abgerissen er aussah, in seinen billigen Jeans und dem aus der Hose hängenden, ungebügelten Button-down-Hemd, ziemlich zerzaust und vermutlich nach Bier und dem billigen frittierten Fisch miefend, den er zu Abend gegessen hatte. Lydia Barrie dagegen trug einen leichten schwarzen Trenchcoat und war vom hauchzarten Duft eines unbestimmt blumigen, geschäftsfraulichen Parfüms umgeben. Sie richtete den Blick auf ihn, und ihre Brauen wölbten sich, als sie ihn von Kopf bis Fuß musterte.
    Dann streifte sie einen dünnen Stoffhandschuh ab und reichte ihm ihre glatte, gepflegte, sehr kalte Hand. Aber sie war es, die erschauderte, als Miles’ Finger ihre Handfläche berührten. Sie starrte ihm ins Gesicht, und ihre großen Augen rundeten sich vor argwöhnischer Feindseligkeit.
    «Es ist verblüffend», sagte sie. «Der Mann auf Ihrem Steckbrief heißt ebenfalls Miles.» Er sah, wie sie die Lippen schürzte: eine unangenehme Erinnerung. «Sein Name ist Miles Spady.»
    Er stand wie vor den Kopf geschlagen da. «Tja», sagte er.
    Natürlich hätte er darauf gefasst sein müssen. Er war diesem bestimmten Decknamen schon einmal begegnet, damals in Missouri. Es war ein verletzender Einfall vonseiten Haydens gewesen, ein beleidigender Insiderwitz, Miles mit dem Nachnamen ihres verhassten Stiefvaters zu verquicken, und in North Dakota hatte sich Hayden in einem Motel sogar unter dem Namen Miles Cheshire eingetragen.
    Es war dumm von ihm gewesen, dieser Frau seinen richtigen Namen zu nennen, ein idiotischer Fehler, und er versuchte jetzt nachzudenken. Sollte er ihr seinen Führerschein zeigen, um zu beweisen, dass er die Wahrheit gesagt hatte?
    «Tja», sagte er noch einmal.
    Warum hatte er sich nicht besser vorbereitet? Warum hatte er sich nicht ein bisschen anständiger angezogen, warum hatte er sich nicht eine einfache Erklärung zurechtgelegt, anstatt sich einzubilden, er könnte improvisieren?
    «Das ist nicht sein wirklicher Name», sagte Miles schließlich. Es war das Einzige, was ihm einfiel und – ach, warum auch nicht? Warum nicht schlicht und einfach die Wahrheit sagen? Warum spielte er noch immer ein Spielchen, das schon seit langem nicht den geringsten Spaß mehr machte? «Miles Spady –», sagte er. «Das ist nur ein Pseudonym; so was macht er dauernd. Oft verwendet er Namen von Leuten, die er kennt. Miles ist mein Name, und Spady hieß unser Stiefvater. Das soll ein Witz sein, nehm ich an.»
    «Ein Witz», sagte sie. Ihre Augen ruhten auf seinem Gesicht, und ihr Gesichtsausdruck flackerte kurz, als sie etwas begriff.
    «Sie sind mit ihm verwandt», sagte sie. «Jetzt sehe ich die Ähnlichkeit.»
     
    Tja.
    Das verschlug ihm die Sprache. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nach so langer Zeit.
    So viele Jahre lang hatte er dieses alte Foto von Hayden herumgezeigt, und nie hatte jemand eine Verbindung hergestellt. Für eine Weile hatte ihn das erstaunt, aber schließlich war es lediglich zu einem weiteren kleinen bohrenden Zweifel geworden.
    Sie waren eineiige Zwillinge – selbstverständlich ähnelten sie

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