Identität (German Edition)
sich –, warum hatte es dann so viele Jahre gedauert, bevor jemand ihn darauf angesprochen hatte? Miles vermutete, dass er anders als Hayden gealtert war – er hatte zugenommen, sein Gesicht hatte sich verhärtet und war massiger geworden –, aber trotzdem, es hatte ihn immer ein bisschen verletzt, dass kein Mensch sein Gesicht mit dem des Jungen auf dem Steckbrief in Verbindung brachte.
Deswegen war es eine Erleichterung, ja sogar ein Trost, sie das Wort «Ähnlichkeit» sagen zu hören. Es war so, als ob sein Körper sich zum ersten Mal verfestigte, zum ersten Mal seit – er konnte sich nicht erinnern, seit wie lange.
Miles atmete tief aus.
«Er ist mein Bruder», sagte er zuletzt, und es war eine solche Befreiung, das zu sagen, eine solche Erleichterung. «Ich bin seit langem auf der Suche nach ihm.»
«Ich verstehe», sagte Lydia Barrie. Sie sah ihn an, und ihr Blick verlor ein klein wenig an Feindseligkeit. Sie strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und schloss dann die Augen, als ob sie meditierte.
«Dann haben wir wohl etwas gemeinsam, Miles», sagte sie. «Ich bin ebenfalls seit langem auf der Suche nach ihm.»
Er war einsam: Das war die Erklärung, die er sich später gab, als er sich fragte, warum er nicht vorsichtiger, nicht besonnener gewesen war. Er war einsam und müde und desorientiert, und er hatte es satt, Spielchen zu spielen, und was machte es auch schon aus? Was machte es schon aus?
Sie setzten sich an die Bar des Mackenzie Hotel, und er genehmigte sich noch ein paar Bier. Lydia Barrie trank mehrere Gin Tonic, und er erzählte ihr alles.
Na ja – fast alles.
Es war verwirrend, stellte er fest, sobald er begann, die ganze Geschichte in Worte zu fassen. Ihre unglaubliche Kindheit – die selbst in der mildesten Variante wie direkt aus einem Comic klang. Ihr Vater, der Clown/Zauberkünstler/Hypnotiseur. Der Atlas. Haydens Zusammenbrüche, die vergangenen Existenzen und die Geisterstädte, die vielfältigen Identitäten, die er abwechselnd anlegte, die E-Mails und Briefe, die eine Schatzsuche vorzeichneten, auf der sich Miles mittlerweile seit Jahren befand. Am peinlichsten war vielleicht gerade dieses Eingeständnis, dass er seit inzwischen über einem Jahrzehnt Haydens Fährte folgte und ihm um keinen Schritt näher gekommen war.
Wie erklärte man das? Genügte es zu sagen, dass sie Brüder waren – dass Hayden der letzte lebende Mensch auf Erden war, der an denselben Erinnerungen teilhatte, der letzte Mensch, der noch wusste, wie glücklich sie an einem bestimmten Punkt ihres Lebens gewesen waren, der letzte Mensch, dem klar war, dass es auch anders hätte werden können? Genügte es zu sagen, dass Hayden ein Kanal war, durch den er in die Vergangenheit zurücktauchen konnte, der letzte Faden, der ihn mit dem verband, was er noch immer als sein «wirkliches» Leben betrachtete?
Genügte es zu sagen, dass er Hayden – selbst jetzt, selbst nach alldem – noch immer mehr liebte als jeden anderen Menschen auf der Welt? Dass noch immer kein Tag verging, an dem er sich nicht nach dem alten Hayden gesehnt hätte, nach dem Bruder, den er als Junge gekannt hatte, und das, obwohl er wusste, dass es verrückt klang. Verzweifelt. Pathologisch.
«Ich weiß ehrlich nicht, was ich gerade mache», sagte er und verschränkte die Hände auf der Oberfläche des Tresens. «Warum bin ich hier? Ich weiß es wirklich nicht.»
Im Laufe der Jahre hatte er sich immer wieder vorgestellt, er würde irgendjemandem seine Geschichte erzählen – einem weisen Therapeuten vielleicht; oder einem Freund, der ihm vertraut geworden war – John Russell vielleicht, Zeit und räumliche Nähe vorausgesetzt; oder einer Freundin, sobald sie sich näher kennengelernt hätten und er sicher sein könnte, dass sie nicht sofort weglaufen würde. Dem Mädchen bei Matalov Novelties, Aviva, Mrs. Matalovs Enkelin, mit ihrem schwarzgefärbten Haar und ihren Skelett-Ohrgehängen und ihren scharfsichtigen, mitfühlenden, wissenden Augen –
Aber er hätte sich niemals vorstellen können, dass der Mensch, dem er sich schließlich anvertrauen würde, jemand wie Lydia Barrie sein würde. Es gab wenige Leute, die dafür ungeeigneter gewesen wären als die eulenhaft wachsame, zugeknöpfte Frau mit ihren Handschuhen und ihrem Trenchcoat und ihrer blassen, mondänen Haut.
Trotzdem fiel es ihm leicht, zu ihr zu sprechen. Sie hörte konzentriert zu, und vor allem schien sie das, was er ihr erzählte, nicht in Zweifel zu
Weitere Kostenlose Bücher