Identität (German Edition)
ziehen. Nichts von alldem, sagte sie zuletzt, überrasche sie.
Lydia Barrie war seit über drei Jahren auf der Suche nach Hayden – oder, um genauer zu sein, auf der Suche nach ihrer jüngeren Schwester Rachel.
Hayden war Rachels Verlobter. Beziehungsweise war es gewesen.
«Das war in Missouri», sagte Lydia Barrie. «Meine Schwester besuchte die University of Missouri in Rolla, und Ihr Bruder unterrichtete sie. Er nannte sich Miles Spady – er war Doktorand in Mathematik. Angeblich war er Brite. Er sagte, er habe in Cambridge studiert und sein Vater sei dort Dozent für Anthropologie, und ich glaube, als sie ihn damals im Dezember mit nach Hause brachte, war ich von ihm ziemlich geblendet.
Wir waren fünf Frauen: Rachel und ich und unsere mittlere Schwester Emily, meine Tante Charlotte und unsere Mutter. Unser Vater war gestorben, als wir noch Kinder waren, also kam das hinzu: Es war etwas Neues, einen Mann im Haus zu haben.
Eine weitere Sache war die schwere Krankheit meiner Mutter. Sie hatte ALS, und zu dem Zeitpunkt saß sie schon im Rollstuhl. Wir wussten alle, dass sie bald sterben würde, und deswegen – ich weiß nicht, jeder wollte, dass es eine wunderschöne Weihnacht würde, und ich bin mir sicher, dass er das begriff. Er war sehr charmant und reizend zu unserer Mutter. Sie konnte schon nicht mehr sprechen, aber er saß die ganze Zeit bei ihr und redete, erzählte ihr von seinem Leben in England und –
Ich glaubte ihm. Zumindest war er ausreichend überzeugend. Im Nachhinein weiß ich, dass mir sein Akzent damals irgendwie leicht aufgesetzt vorkam, aber ich habe mir zu dem Zeitpunkt nicht viel dabei gedacht. Er schien sehr intelligent und sehr nett zu sein. Ein bisschen exzentrisch, fand ich, ein bisschen affektiert, aber nichts, was mich sonderlich argwöhnisch gemacht hätte.
Ich habe unbestreitbar nicht allzu sehr aufgepasst. Ich wohnte in New York, war nur über Weihnachten für ein paar Tage nach Hause gekommen, und ich war mit meinem eigenen Leben beschäftigt, außerdem standen Rachel und ich uns nicht übermäßig nah. Wir sind acht Jahre auseinander, und sie war schon immer – ein sehr stilles Mädchen, verschlossen, wissen Sie? Auf jeden Fall fand ich es albern von ihnen, zu sagen, sie seien verlobt, wo sie doch nicht vorhatten, vor ihrem College-Abschluss zu heiraten, und es bis dahin noch weit über ein Jahr hin war. Sie war damals im zweiten Jahr.
Und dann, im Oktober des folgenden Jahres – ungefähr fünf Monate nach dem Tod meiner Mutter –, verschwanden die beiden.»
Lydia Barrie zögerte kurz. Starrte dabei in ihr Glas. Miles fragte sich, ob er ihr erzählen sollte, wie besessen Hayden von Waisen gewesen war. Wie gern sie als Kinder gespielt hatten, sie seien Waisenkinder in Gefahr, von zu Hause ausgerissen, und wie sehr sie dieses Kinderbuch geliebt hatten, Der geheime Garten , in dem es um ein kleines Waisenmädchen ging …
Aber vielleicht war das nicht der richtige Augenblick, um davon zu sprechen.
«Ich war unglaublich wütend auf sie», sagte Lydia Barrie endlich mit leiser Stimme. «Wir hatten seit einiger Zeit kein Wort miteinander gewechselt. Ich nahm es ihr übel, dass sie nicht zum Begräbnis unserer Mutter heimgekommen war, und so riss der Kontakt zwischen uns ab. Es dauerte eine ganze Weile, bis mir klarwurde, dass sie gar nicht mehr auf dem College war. Und es keinerlei Möglichkeit gab, sie zu erreichen.
Offensichtlich hatten sie die Stadt zusammen verlassen, aber keiner wusste, wohin sie gegangen sein könnten, und sie haben sich praktisch … Tja, wahrscheinlich klingt es für Sie nicht lächerlich, wenn ich sage, dass sie sich in Luft aufgelöst haben.»
Und sie sah Miles mit ihren großen, etwas vorstehenden Augen an, und er merkte, wie blass ihre Haut war, fast durchscheinend, wie Florpost, durch die er ihre zarten Adern erkennen konnte. Sie hob die Hand und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr.
«Wir haben Rachel seitdem nicht wiedergesehen», sagte Lydia Barrie.
Rachel , dachte er. Er erinnerte sich an den Namen. Haydens Freunde aus dem Mathematischen Institut hatten ihn ihm genannt.
Sie war das Mädchen, das aus der Tür des abbruchreifen Mietshauses hinausgespäht hatte, durch das Fliegengitter mit dem klaffenden Riss. Er sah noch genau das staubige Sofa vor sich, das wie Sperrmüll unter den vorderen Erkerfenstern gestanden hatte.
Er erschauderte bei der Erkenntnis: Hier trat er selbst in der Geschichte auf, die Lydia
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