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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Barrie erzählt hatte. Er hatte sie sich, fast unbeteiligt, angehört, hatte sich diese Dezemberszene ausgemalt: Hayden im Wohnzimmer bei der zitternden stummen Mutter, beide ins Feuer starrend, unter dem Schatten eines glitzernden Weihnachtsbaumes; Hayden zusammen mit diesen Frauen am Frühstückstisch, wie er eine Scheibe Toast mit Butter bestrich und dazu mit seinem Bühnen-Briten-Akzent redete – was er, wie Miles sich erinnerte, immer besonders gern getan hatte; Hayden, der Rachel Barrie einen Arm um die Schultern legte, während schön eingepackte Geschenke verteilt wurden und aus der Stereoanlage ein Weihnachtslied erklang.
    Er hatte das alles im Geiste gesehen, als schaute er sich die körnigen, nostalgisch anrührenden Videos irgendwelcher wildfremden Leute an – und dann war unvermittelt Rachel Barries Auge in einem Türspalt erschienen und hatte zu ihm hinausgestarrt.
     
    Ich weiß, wer Sie sind , hatte sie gesagt. Wenn Sie nicht gehen, rufe ich die Polizei .
     
    Miles und Lydia saßen da am Tresen, beide schweigsam. Sie hob ihr Glas, und obwohl auch andere Leute in der Bar waren, redeten und lachten und im Hintergrund Musik spielte, hörte er das leise Xylophonklimpern der Eiswürfel in ihrem Glas.
    «Ich glaube, ich habe einmal Ihre Schwester gesehen», sagte er. Und als er dann sah, wie sich ihre Miene erhellte, korrigierte er sich rasch.
    «In Rolla», sagte er. «Das war vor ungefähr fünf Jahren. Es muss gewesen sein, kurz bevor sie …»
    «Ich verstehe», sagte sie.
    Er zuckte schuldbewusst die Achseln – er wusste aus eigener Erfahrung, wie solche Informationsfunken plötzlich aufleuchten und dann wieder verlöschen konnten. Die ständigen Enttäuschungen, die Entmutigung.
    «Tut mir leid», sagte er.
    «Nein, nein», sagte sie. «Ich wollte nicht – enttäuscht aussehen.» Sie schaute hinunter auf ihr Glas, berührte das Kondenswasser auf dem Rand. «Sie sind seit Ewigkeiten der erste Mensch, den ich treffe, der sie tatsächlich gesehen hat. Also: Erzählen Sie mir alles, woran Sie sich erinnern. Es ist wichtig und nützlich, selbst wenn es nur Kleinigkeiten sind. Hat sie überhaupt mit Ihnen gesprochen?»
    «Tja», sagte er.
    Ihm war, als liege eine gewisse Intimität in der Weise, wie sich ihre Augen an ihn geheftet hatten – erwartungsvoll, feucht und traurig – hoffnungsvoll. Was konnte er ihr schon erzählen? Er hatte mit ein paar Leuten gesprochen, anderen graduierten Studenten, mit denen sie ohne Zweifel ebenfalls gesprochen hatte; er war zu dem Haus gegangen, in dem Rachel wohnte, und sie war kurz an die Tür gekommen, aber viel hatte sie nicht gesagt, oder? Lediglich gedroht, die Polizei zu rufen – was ihm vermutlich Angst eingejagt hatte. Wenn’s um die Staatsgewalt ging, war er ein Feigling, er war von jeher davon überzeugt gewesen, dass die Bullen sich im Zweifelsfall gegen ihn stellen würden – wie konnte man schließlich einen Menschen wie Hayden erklären, ohne selbst wie ein Verrückter zu klingen? Ich weiß, wer Sie sind , hatte Rachel gesagt. Ich werde die Polizei rufen .
    Und warum war er nicht hartnäckiger gewesen? Warum hatte er sich nicht gewaltsam Zutritt verschafft, sich mit dem armen Mädchen hingesetzt und ihr genau erzählt, wer er war und wer Hayden war?
    Er hätte ihr helfen können, dachte er. Er hätte sie retten können.
    Er sah auf seine Hand hinunter. Selbst bei eineiigen Zwillingen waren die Fingerabdrücke, die Handlinien verschieden, und einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, Lydia diese nutzlose Information zu geben – er wusste selbst nicht, warum.
     
    Zunächst hatte Lydia versucht, die Behörden einzuschalten. Aber sie waren nicht sonderlich besorgt oder hilfreich gewesen.
    Danach waren es Privatdetektive gewesen, eine ganze Reihe davon.
    «Aber das war sehr kostspielig», sagte sie. «Ich bin nicht reich, und jedenfalls ist es mir auch nie gelungen, einen zu finden, der übermäßig gescheit gewesen wäre. Die gerieten alle bloß von einer Sackgasse in die nächste, rechneten bis zuletzt nach Stunden ab, plus Spesen, und erreichten nichts. Nicht bei Ihrem Bruder. Diese Detektive verjuxten, ich weiß nicht – Hunderte und Tausende von Dollars –, und dann kamen sie mit irgendwelchen Lächerlichkeiten zurück. Einem Postfach in Sedona, Arizona. Einer Internet-Meinungsforschungsfirma in Manada Gap, Pennsylvania. Einem verlassenen Motel in Nebraska. Und dann wollte einer von ihnen Geld haben, um gewisse internationale Spuren

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