Idol
auch in sich völlig disproportioniert, denn so deutlich die breite, gewölbte Stirn modelliert
schien, so bedeutungslos und unauffällig war die untere Gesichtshälfte: eine lächerlich kleine Nase, hohle Wangen, ein Mund,
schmal wie ein Strich, ein fliehendes Kinn. Sein Teint war noch bleicher als seine Mönchskutte, oder genauer gesagt: so durchsichtig,
daß man sich fragte, ob er wirklich Blut in den Adern habe.
Dagegen war ich von Volumen und Ausdruck seiner Stimme überrascht, als er die Frage an mich richtete – auf meine Aufforderung
hin hatte er sich in einen Lehnstuhl gesetzt, den seine zerbrechliche Figur nicht einmal zu einem Viertel ausfüllte, und mit
einer raschen Geste den angebotenen Wein abgelehnt –, was ich von ihm erwartete.
Wortlos hielt ich ihm das
precetto
hin; er nahm es mit einer Eilfertigkeit und Begierigkeit, die mich an ein Eichhörnchen denken ließen, das nach einer Haselnuß
schnappt. Und kaum hatte er mit dem Lesen begonnen, schien er auch schon fertig zu sein.
|329| Er schloß die Augen und verharrte so lange stumm, daß ich ungeduldig wurde und schon den Mund aufmachte, um ihn nach seiner
Meinung zu fragen. Im selben Moment schlug er die Augen auf – ich kann nicht annehmen, er habe mich den Mund öffnen sehen,
bevor er selbst die Augen öffnete –, machte die gleiche schnelle, energische Handbewegung, mit der er meinen Wein abgelehnt
hatte, und sagte mit seiner erstaunlich lauten, deutlichen Stimme:
»Wollet mir bitte keine Fragen stellen, Durchlaucht. Sie sind überflüssig, denn ich werde im voraus nicht nur all die beantworten,
die Ihr stellen könntet, sondern selbst diejenigen, an die Ihr nicht denkt.«
»Also gut, Pater, dann sprecht, ich höre!«
»Man muß zunächst verstehen, Durchlaucht, daß die Ehe ein Sakrament zwischen den beiden Gatten ist und daß sie, vor allem
seit dem Tridentinischen Konzil, von der Kirche als unauflöslich angesehen wird. Einer der beiden Eheleute kann jedoch beim
Papst die Annullierung beantragen, wenn er belegen kann, daß sein Einverständnis zum Zeitpunkt der Heirat durch List oder
Gewalt erzwungen oder aber die körperliche Vereinigung nicht vollzogen wurde beziehungsweise unfruchtbar geblieben ist. Der
letzte Punkt ist gleichwohl sehr umstritten, wie sich im Falle Heinrichs VIII. zeigte, der von Clemens VII. verlangte, seine
Ehe mit Katharina von Aragonien aufzulösen, da sie ihm keinen Sohn geschenkt hatte. Allerdings hatte sie ihm sechs Töchter
geboren. Sie war also nicht unfruchtbar. Eingedenk der Anfechtbarkeit seines Arguments machte Heinrich VIII. einen anderen
Aspekt geltend. Katharina war eine nahe Verwandte von ihm, und diesen an sich nicht sehr überzeugenden Gesichtspunkt – das
Verwandtschaftsverhältnis ist kein Grund zur Auflösung der Ehe – hätte Clemens VII. bei einigem guten Willen akzeptieren können,
wenn sich dem nicht der Neffe von Katharina, Kaiser Karl V., mit aller Macht entgegengestellt hätte. Er hat nicht gut daran
getan, denn ohne seinen Widerstand wäre die Scheidung ausgesprochen und das Schisma verhindert worden, das England vom Vatikan
und der übrigen Christenheit trennte. Kleine Ursache, große Wirkung.«
»Das alles ist sehr interessant, Pater, aber es betrifft nicht mein
precetto
«, sagte ich.
»Indirekt doch, Durchlaucht. Denn diese Vorrede sollte erläutern, |330| daß die Annullierung einer Ehe in der Regel von einem der beiden Gatten verlangt wird und daß es im höchsten Maße verwunderlich
ist, wenn ein
precetto
– wie in Eurem Fall und bei vielen anderen
precetti
, die unter dem Pontifikat Gregors XIII. verkündet wurden – vom Papst ausgesprochen wird, ohne daß einer der Gatten es beantragt
hat.«
»Ihr seid also der Meinung, Pater, diese
precetti
seien Ermessensmißbrauch?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, daß sie im höchsten Maße befremdlich sind. Und darf ich Euch daran erinnern,
Durchlaucht, daß wir vereinbart hatten, Ihr solltet keine Fragen stellen?«
»Entschuldigt, Pater. Ich bin es nicht gewohnt zu gehorchen, doch mit ein wenig gutem Willen gelingt es mir vielleicht, mich
zu fügen.«
Die Ironie schien Luigi Palestrino zu entgehen. Denn er fuhr unbeirrt fort:
»Die Ehe ist, wie gesagt, ein Sakrament zwischen den beiden Gatten, also kann keine Macht außerhalb dieser Ehe, nicht einmal
das Oberhaupt der Christenheit, auf legitime Art dieses Sakrament aufheben. Es sei denn, besagte Ehe wäre von
Weitere Kostenlose Bücher