Idol
er ging ungehindert bei seinem |39| Adoptivvater ein und aus – betrat gerade in diesem Augenblick das Zimmer, und als er diese Worte hörte, erstarrte er, als
hätte er sein Todesurteil vernommen. Er erbleichte, warf sich dem Kardinal zu Füßen und flehte eindringlich, wenn auch mit
stockender Stimme:
»Vater! Mein Vater! Ihr schlagt mich ans Kreuz! Ich kann ohne Vittoria nicht leben! Sie ist eine außergewöhnliche Frau, so
tugendhaft wie anmutig. Ich bin gewiß nicht blind, was ihre Verwandtschaft anbelangt. Aber soll Vittoria verdammt werden wegen
der Schwächen ihrer Familie, sie, die selbst frei davon ist? Ach, Vater, seid mir gnädig und laßt uns Gerechtigkeit widerfahren.
Schaut Euch Vittoria an, hört sie an, bevor Ihr sie aus meinem Leben verbannt!«
Ich muß sagen, daß ich vom Ungestüm und von der Klugheit dieser Rede überrascht war. Wie jedermann in Rom, hielt ich Francesco
Peretti für einen liebenswürdigen, naiven jungen Mann ohne großen Ehrgeiz, nicht sehr intelligent und beinahe ein Schwächling.
Nun entdeckte ich, daß er, von einem starken Gefühl beseelt, nicht nur Mut aufbrachte – denn es gehörte Mut dazu, dem schrecklichen
Montalto die Stirn zu bieten –, sondern auch Verstand an den Tag legte, da er mit seinen Worten an eben die Tugend appellierte,
die Seine Eminenz bei anderen und bei sich selbst am meisten schätzte: Gerechtigkeitssinn.
Ich sah wohl, daß der Kardinal selbst überrascht war, zum ersten Mal den Mann in seinem Sohn zu entdecken, den er für ein
Kind gehalten hatte. Doch er schwieg zunächst.
Seine Eminenz überlegte, denn er pflegte seine Antworten genau zu bedenken. Er schleppte sich auf seinen Krücken bis ans Fenster,
das auf den Hof ging, drehte Francesco den Rücken zu und sagte lange kein Wort. Ich bemerkte, daß durch den Gebrauch der Krücken
sein Hals tiefer zwischen die Schultern gezwängt wurde, was ihn noch mehr verunstaltete. Nimmt man hinzu, daß seine schweren,
groben Gesichtszüge von der großen Nase und dem fliehenden Kinn buchstäblich nach unten gezogen schienen, wird man mir einräumen,
daß Montalto in der Tat wenig Grund hatte, stolz auf sein Äußeres zu sein. Vielleicht war das, wenn man es recht bedenkt,
einer der Gründe, weshalb Gregor XIII., der mit seinen über siebzig Jahren noch immer sehr gut aussah, ihn so wenig schätzte.
|40| Es befanden sich jetzt vier Personen im Raum: der Kardinal, mit dem Rücken zu uns am Fenster stehend, Francesco Peretti, der
sich aus seiner knienden Haltung erhob und seinen Onkel ansah, als hinge sein Leben von ihm ab;
il bello muto
, still und reglos wie eine Katze; schließlich ich selbst, sehr gespannt darauf, welche Entscheidung Seine Eminenz treffen
würde, und außerstande zu erraten, was dabei die Oberhand gewönne: sein unbeugsamer Charakter oder sein Gerechtigkeitssinn.
Als er sich umdrehte, wandte er sich nicht an Francesco, sondern an den
bello muto
und sagte mit unzufriedener Miene:
»Rossellino, ich stelle fest, daß auf dem Mittelbeet im Hof an den Geranienstöcken mehrere Blüten schon verwelkt sind. Sagt
dem Gärtner, er solle die welken Blüten abschneiden!«
Daraufhin zog
il bello muto
die Augenbrauen fragend in die Höhe und machte mit der rechten Hand ein Zeichen, das mir unverständlich geblieben wäre, hätte
Montalto nicht sehr schroff geantwortet:
»Ja, jetzt gleich! Wenn eine Sache beschlossen ist, darf man sie nicht aufschieben.«
Dann sah er Francesco Peretti an.
»Francesco, geh und hole mir Vittoria!«
»Wie!« fragte Francesco verblüfft. »Sofort?«
»Ja, sofort. Um der Gerechtigkeit willen muß ich Vittoria sehen und anhören.«
Wie alle großen Politiker hatte Montalto Sinn für Theatralik (wozu meiner Ansicht nach auch die Krücken gehörten, denn manchmal
hatte ich meine Zweifel, ob er sie wirklich brauchte). Zwar gab er Francesco nach, gleichzeitig aber wollte er seinen Ruf
der Unbeugsamkeit aufrechterhalten und bemühte sich deshalb, sein Einlenken hinter diesem Theatercoup zu verstecken, der völlig
überflüssig war, denn Seine Eminenz hätte Vittoria ebensogut einen Tag später empfangen können. Aber natürlich, Warten wäre
Aufschieben gewesen: schulmeisterlich noch im Nachgeben, erteilte uns der Schulmeister zusätzlich eine Lektion in Moral, woraufhin
il bello muto
losstürzen mußte, um die welken Blüten abschneiden zu lassen, und Francesco eilig Vittoria holte. Niemandem entging übrigens,
daß diese
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