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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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den mühsam ertasteten Stufen herunterzureißen.
     Ich begriff instinktiv, daß ich mich nur mit den Wellen vorwärtsbewegen durfte, beim Zurückfluten des Wassers aber mit aller
     Kraft mich an den Fels krallen mußte, wie eine Napfschnecke an seinen Unebenheiten klebend, um nicht das Gleichgewicht zu
     verlieren und von der Brandung in die Tiefe gezogen zu werden. Unser Aufstieg vollzog sich daher außerordentlich langsam,
     und ich erinnere mich, daß ich die ganze Zeit einen absurden, heftigen Unwillen gegen die Leute empfand, die zwar die Stufen
     gehauen, aber nicht daran gedacht hatten, einen eisernen Handlauf an der Felswand anzubringen. Es kam mir gar nicht in den
     Sinn, daß diese Treppe nur dem Zweck dienen sollte, bei schönem Wetter in die Bucht hinabzusteigen.
    Auf halber Höhe konnten uns die Wellen nicht mehr erreichen, dafür trafen uns nun so heftige Sturmböen, daß wir nach wie vor
     in Gefahr schwebten, von der Steilwand gerissen zu werden. Die Gefahr hatte sich sogar noch vergrößert, zumal wir ganz durchnäßt
     waren und der Wind uns vor Kälte erstarren ließ: unsere Bewegungen wurden steif, unser Griff nach dem Felsen unsicher. Schwindelgefühle
     quälten mich so, daß ich zwei- oder dreimal versucht war, meinen Griff zu lösen und mich vom Sturm in die Tiefe schleudern
     zu lassen. Auch mein Geist war völlig erlahmt und desorientiert: wider alle Vernunft sah ich in diesem Sturz nicht die Vernichtung,
     sondern eine Ruhepause, die mir das Überleben ermöglichen könnte. Indes bewegte ich mich rein mechanisch weiter vorwärts,
     ich ahmte blind Marcellos Gesten nach, der vor mir kletterte. Und ich wunderte mich, daß er, der Jüngere, mir Untergebene,
     voranging: ich hatte ihn hinter mir gewähnt.
    Was dann geschah, wurde mir gar nicht richtig bewußt. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr den Felsboden, sondern weichen, glatten
     Rasen unter mir zu spüren. Als ich jedoch den Fuß hob, um die nächste Stufe zu ersteigen, trat ich ins Leere und fiel mit
     dem Gesicht zur Erde. Ich empfand einen heftigen Schmerz am |177| Schenkel und wurde – vielleicht auch durch meine Erschöpfung – ohnmächtig.
    Obwohl ich mich nicht rühren, nicht sehen, nicht sprechen konnte, verlor ich das Bewußtsein nicht ganz. Ich hörte um mich
     her Gemurmel, ohne etwas zu verstehen, und merkte deutlich, wie ich von liebevollen Armen getragen und auf einem weichen Teppich
     vor einem Feuer niedergelegt wurde. Aber ich war, wie gesagt, nur mit Unterbrechungen bei Bewußtsein: bald sah ich etwas,
     bald sah ich nichts; in meinem Hirn wechselten unentwegt schwarze Löcher mit hellen Lichtflecken.
    Ich fühlte jedenfalls, wie mein Kopf angehoben, wie ich ausgezogen wurde, und in dem Stimmengewirr um mich her erkannte ich
     die Stimmen zweier Frauen, eine hohe und eine tiefe. Das tröstete mich über die Maßen. Ich dachte nicht im entferntesten an
     Vittoria, sondern glaubte mich in die Kindheit zurückversetzt, als meine Mutter und ihre Zofe mich aus dem Badezuber hoben
     und mit warmen Handtüchern abtrockneten. Mir war, als durchlebte ich diesen köstlichen Augenblick noch einmal. Frauen, deren
     sanfte, musikalische Stimmen ich zwar vernahm, die ich aber nicht sah, rieben mich kräftig ab, so daß Wärme und Leben in meinen
     Körper zurückkehrten. Dann verband mir die eine mit viel Behutsamkeit den Schenkel; ich spürte nur einen durchaus erträglichen
     Schmerz, der mich zudem wieder etwas zu mir kommen ließ, und ich gewahrte nun zwei über mich gebeugte Köpfe, einen blonden
     und einen braunen, wenn auch die Konturen noch sehr verschwommen waren. Die Farbe der Augen konnte ich nicht erkennen, ihren
     Ausdruck dagegen nahm ich deutlich wahr: sie blickten sanft, ängstlich und liebevoll. Ich bemühte mich, den Frauen zuzulächeln,
     was mir aber leider nicht gelang. Meine Gesichtsmuskeln waren wie erfroren.
    Eine der Frauen trocknete mein Haar und schob mir ein Kissen in den Nacken. Dann verschwanden beide. Ein Gefühl schmerzlicher
     Verlassenheit erfüllte mich, das aber nicht lange vorhielt, denn sogleich wurde mein Kopf wieder angehoben, und eine Männerstimme
     sagte: »Trinkt, Durchlaucht, das wird Euch guttun.« Meine Lider flatterten: diesmal erkannte ich deutlich Marcello, ohne zu
     begreifen, wo ich war und was ich hier tat. Zu meinem großen Erstaunen wurde mir der Becher |178| wieder entzogen, was mich sehr gegen Marcello aufbrachte. Ich runzelte die Stirn; doch als ich den Becherrand wieder

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