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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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zwischen
     den Lippen spürte und die herbe, gezuckerte warme Flüssigkeit von neuem durch meine Kehle rann, trank ich alles bis zur Neige
     mit geschlossenen Lidern. Dann schlug ich die Augen weit auf. Endlich war ich aus schwarzer Nacht in strahlende Helligkeit
     aufgetaucht: ich erkannte Vittoria.
    Wäre ich ein Eremit gewesen, der in seiner Höhle betet – die plötzliche Erscheinung der Jungfrau Maria in ihrer himmlischen
     Glorie hätte keinen größeren Eindruck auf mich machen können. Vittorias Gesicht schien mir die Schönheit der ganzen Welt widerzuspiegeln.
     Ich betrachtete es mit einer Liebe, die sich zur Anbetung steigerte, als sich Vittoria sanft und mütterlich über mich beugte
     und mich ansprach. An ihrem Tonfall hörte ich, daß sie mir eine Frage stellte, verstand aber kein einziges Wort. Die Musik
     in ihrer Stimme erschien mir so einschmeichelnd und trostreich, daß ich allein vom Zuhören vor Glück dahinschmolz.
    Mit rührender Geduld wiederholte sie ihre Frage, von der ich diesmal das erste Wort verstand: »Durchlaucht.« Ich schüttelte
     den Kopf zum Zeichen, daß sie mich mit meinem Vornamen anreden sollte, und sagte: »Paolo.« Allein dieses eine Wort kostete
     mich große Anstrengung. Das spürte sie offenbar, und weil sie mir in meinem gegenwärtigen Zustand keinen Widerstand leisten
     wollte, sagte sie lächelnd:
    »Paolo.«
    Sie wiederholte ihre Frage, die ich nun verstand: ob ich essen und trinken wolle. Ich nickte. Doch mit dieser Antwort begnügte
     sie sich nicht.
    »Ihr müßt ›ja‹ sagen, Paolo.«
    Ich formulierte mühsam:
    »Ja.«
    Sie beugte sich über mich und verbesserte:
    »Ja, Vittoria.«
    Ich hob meinen Blick zu ihren großen blauen Augen, die geduldig, nachsichtig und milde auf mich heruntersahen, und mit neuer
     Anstrengung sprach ich ihr nach:
    »Ja, Vittoria.«
    Meine Antwort schien sie befriedigt zu haben, denn sie schenkte mir ein hinreißendes Lächeln, entfernte sich und |179| machte sich am Kamin zu schaffen. Jetzt konnte ich auch ihren Körper sehen, der bisher durch die Nähe ihres Gesichts meinem
     Blick quasi entzogen war. Sie trug ein weites Hauskleid, ganz ähnlich wie damals in Gubbio auf der Terrasse. Mit den Augen
     verfolgte ich jeden ihrer Schritte, jede ihrer Bewegungen. Mir war, als verkörpere sie das gesamte lebende Universum und als
     existierte ich nur durch sie.
    Nach kurzer Zeit kehrte sie mit einem Becher zurück, den sie mir reichte. Ich nahm ihn nicht. Ich wäre wohl dazu in der Lage
     gewesen, doch ich hoffte, sie würde meinen Kopf wieder mit ihrem Arm anheben und mir den Becher an die Lippen setzen. Was
     sie auch tat. Da mir inzwischen Kraft und Bewußtsein zurückgekehrt waren, erfüllten mich die Nähe ihres Gesichts und ihrer
     Brüste sowie ihr warmer Arm unter meinem Nacken mit einem noch größeren Glücksgefühl als beim ersten Mal, was sie irgendwie
     gespürt haben muß, denn sie atmete schneller.
    Auch den Kuchen, den sie mir hinhielt, nahm ich nicht, obwohl mir bei seinem Anblick das Wasser im Munde zusammenlief, denn
     meine letzte Mahlzeit lag viele Stunden zurück (was auch meine Schwäche teilweise erklärte). Sie zerkrümelte den Kuchen in
     den Becher mit dem gezuckerten warmen Wein. Als der Kuchen aufgeweicht war, fütterte sie mich wie ein Kind mit einem kleinen
     Löffel, zunächst etwas ängstlich, dann immer beruhigter, weil sie sah, wie gierig ich schluckte.
    So labte sie mich mit dem Kuchen und sah mir strahlend beim Essen zu. Dann stellte sie den Becher am Kamin ab, kam zurück,
     kniete sich hin und wischte meinen Mund mit einer kleinen Serviette ab. Da nahm ich ihre Hand und küßte sie inbrünstig.
    »Oh, Paolo!« rief sie fröhlich. »Endlich bewegt Ihr Euch, Ihr blickt auch lebhafter und habt wieder Farbe.«
    Sie neigte sich über mich und legte ihre Lippen leicht auf meinen Mund. Ich erwiderte ihren Kuß, voller Angst, sie könne den
     meinen zu begehrlich finden und erschrecken. Aber meine Arme taten unwillkürlich, wonach mein Herz verlangte: sie umschlangen
     ihren Leib, und mit unsagbarer Erleichterung spürte ich, wie Vittoria in meiner Umarmung dahinschmolz.
     
     
    |180|
Caterina Acquaviva:
     
    Als ich am nächsten Tag im Morgengrauen erwache, weiß ich zunächst nicht, warum ich vor dem Kamin auf dem Teppich liege. Dann
     fällt mir alles wieder ein: Marcello war in meinem Bett eingeschlafen, und ich hatte es ihm allein überlassen, da es für zwei
     zu schmal ist.
    Mir schmerzt der

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