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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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eingehakt, und da sie einen halben Kopf größer ist als ich, muß ich lange Schritte machen, um mitzuhalten. Doch
     als sie sich dem Felsvorsprung nähert, der über die Steilwand hinausragt, mache ich mich los und sage:
    »Verzeihung, Signora! Doch dorthin bringt Ihr mich nicht für alles Gold der Welt! Dieser schreckliche Abgrund! Ein falscher
     Schritt auf dem feuchten Gras, und Ihr liegt zerschmettert in zehn Klafter Tiefe.«
    »Come sei stupida, Caterina!«
lacht sie. »Warum sollte ich einen falschen Schritt machen? Und wo siehst du Gras? Alles Felsboden. Los, komm!«
    »Nein, nein, Signora, niemals! Vergebung, Signora! Der Felsvorsprung hängt so weit über! Wenn er nun unter Eurem Gewicht wegbricht!«
    Sie lacht wieder.
    »Er könnte hundertmal mein Gewicht aushalten. Komm doch, Caterina!«
    »Vergebung, Signora, nein. Mir wird schon schlecht vom Hingucken. Seht nur, wie ich zittere.«
    »Ja, stimmt, du zitterst, du Dummchen. Dabei ist das ganz ungefährlich.«
    »Für Euch vielleicht‹, sage ich und ziehe mich schrittweise zum Haus zurück. »Aber nicht für mich: Abgründe ziehen mich an!«
    »Komm doch«, lockt sie fröhlich. »Deine Einbildungskraft geht mit dir durch. Das Risiko ist gleich Null! Guck!«
    Dabei wagt sie sich bis an den äußersten Rand des Felsvorsprungs, der nicht breiter als ein Schemel ist. Je weiter sie sich
     vorwagt, um so mehr ziehe ich mich zurück. Endlich stoße ich mit dem Rücken an die Haustür; ich zittere wie Espenlaub. Ganz
     bestimmt wird sie abstürzen! denke ich und verberge den Kopf in meinem Rock: ich will den Sturz nicht sehen noch ihren schrecklichen
     Schrei hören, wenn der Boden unter ihr nachgibt.
    |183| Doch auch durch den Stoff hindurch höre ich ihr »Komm, komm, Caterina« und ihr schelmisches Lachen. Dann plötzlich Stille!
     Ich hebe den Kopf.
    Die Signora steht aufrecht am Rande des Felsvorsprungs. Ihr langes blondes Haar wird von der aufgehenden Sonne vergoldet und
     weht hinter ihr im leichten Wind, der ihr Kleid um ihren Körper schmiegt. Aber sie lacht nicht mehr und ist sehr bleich. Sie
     hat die Stirn gerunzelt und ihre funkelnden blauen Augen mit hochmütigem Ausdruck auf jemanden zu meiner Linken geheftet.
     Ich wende den Kopf in die Richtung ihres Blickes und sehe Signor Peretti: barhäuptig, ganz außer sich, den blanken Degen in
     der Hand, an der Spitze von einem Dutzend Arkebusieren. Er bleibt stehen, und sofort halten auch die Soldaten in fünfzehn
     Schritt Entfernung hinter ihm an.
    »Signora«, sagt er mit leiser, tonloser Stimme, »die Turmwache hat heute morgen die Trümmer eines Bootes in der Bucht entdeckt.
     Einer der Männer hat sie aus dem Wasser gefischt. Auf einem Bugteil hat er den Namen der Galeere gelesen, von der das Boot
     ausgesetzt wurde. Die Galeere gehört einem hohen Herrn, dessen Namen ich nicht nennen will. Ich möchte mich vergewissern,
     daß er sich nicht bei Euch verbirgt …«
    Mit diesen Worten geht er auf die Tür zu, er scheint überrascht, mich dort zu finden, und guckt mich verstört an, als habe
     er mich noch nie gesehen.
    »Signore«, sagt Vittoria, ohne die Stimme zu erheben, aber sehr deutlich, »ich dulde nicht, daß Ihr ohne meine Erlaubnis bei
     mir eindringt, noch dazu mit Soldaten! Hört mir gut zu: wenn Ihr diese Tür anrührt, stürze ich mich in den Abgrund.«
    »Ihr stürzt Euch in den Abgrund?« murmelt Peretti erbleichend.
    »Ihr habt es gehört.«
    Was mich an diesem Schlagabtausch verwundert, ist, daß keiner von beiden schreit oder tobt. Sie sprechen beide mit leiser
     Stimme. Man hätte meinen können, sie geben sich Mühe, den Fürsten nicht zu wecken. In Wirklichkeit – doch das wird mir erst
     später klar – wollen sie nicht von den Soldaten gehört werden, die nur ein paar Schritte entfernt stehen und die Ohren spitzen.
    Es folgt ein langes Schweigen. Peretti läßt die Hand sinken, die er schon nach der Klinke ausgestreckt hat. Er ist nicht nur |184| bleich, sein Gesicht ist völlig blutleer. Er schaut die Signora an. Er kennt seine Frau nur zu gut und weiß, sie würde genau
     das tun, was sie angedroht hat. Und natürlich hat er jetzt keinen Zweifel mehr, wen er im Haus antreffen würde, die Brust
     seinem Degen darbietend. Heilige Jungfrau! Er runzelt die Brauen, faßt wieder nach der Klinke und steht im Begriff, die Tür
     zu öffnen.
    Doch nein! Er macht nicht auf! Er tritt einen Schritt zurück und schiebt seinen Degen mit zitternder Hand in die Scheide zurück.
     Dann

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