Idoru-Trilogie - Gibson, W: Idoru-Trilogie - Virtual Light/Idoru/All Tomorrow´s Parties
Schlaf und drehte ihr den Rücken zu, als sie vorbeiging.
Sie blieb stehen, das Gesicht ein paar Zentimeter vom Glas entfernt, und spürte die Kälte, die davon ausstrahlte. Nichts auf der Terrasse, nur ein geisterhaft weißer Stuhl, leere Bierdosen. Wo steckte er?
Die Treppe zum ersten Stock war eine Spirale; keilförmige, sehr dicke Holzstücke führten von einem Eisenschaft auswärts. Die ging sie nun hinauf, und die in ihre Schuhsohlen eingesetzten Kohlefaser-Pedalclips klickten bei jedem Schritt.
Tessa wartete am Kopfende der Treppe, ein schlanker blonder Schatten in einer unförmigen, bauschigen Jacke, die bei Tageslicht einen warmen Orangeton hatte, wie Chevette wusste. »Der Van steht nebenan«, sagte sie. »Fahren wir los.«
»Wohin?«
»Die Küste rauf. Ich hab mein Stipendium gekriegt. Ich war noch auf und hab mit Mom gesprochen und es ihr erzählt, als dein Freund gekommen ist.«
»Vielleicht will er nur reden«, sagte Chevette. Sie hatte Tessa erzählt, dass er sie damals geschlagen hatte. Jetzt bereute sie es fast.
»Aber darauf willst du’s doch wohl nicht ankommen lassen, oder? Wir sind weg, okay? Klar? Ich hab schon gepackt. « Sie stieß mit der Hüfte gegen das gewölbte Rechteck einer Reisetasche, die sie sich über die Schulter gehängt hatte.
»Ich aber nicht«, sagte Chevette.
»Du hast noch gar nicht ausgepackt, erinnerst du dich?« Das stimmte. »Wir gehen über die Terrasse raus, hinten an Barbaras Haus vorbei, in den Van und ab durch die Mitte.«
»Nein«, sagte Chevette. »Wir wecken alle und schalten die Außenbeleuchtung ein. Was kann er schon tun?«
»Ich weiß nicht, was er tun kann. Aber er kann jederzeit wiederkommen. Er weiß jetzt, dass du hier bist. Du kannst nicht bleiben.«
»Ich bin nicht sicher, ob er mir wirklich was tun würde, Tessa.«
»Willst du mit ihm zusammen sein?«
»Nein.«
»Hast du ihn hierher eingeladen?«
»Nein.«
»Willst du ihn sehen?«
Zögern. »Nein.«
»Dann hol deine Tasche.« Tessa zwängte sich mit der Reisetasche voran an ihr vorbei. »Jetzt gleich«, sagte sie über die Schulter hinweg, während sie die Treppe runter ging.
Chevette machte den Mund auf, um etwas zu sagen, und wieder zu. Sie drehte sich um, tastete sich durch den Flur zur Tür ihres Zimmers. Es war eine ehemalige Kammer, aber größer als manche Häuser auf der Brücke. Eine Milchglaskuppel in der Decke leuchtete auf, wenn man die Tür öffnete. Jemand hatte ein dickes Stück Schaumstoff so zurechtgeschnitten, dass es in der Mitte des schmalen, fensterlosen Raumes zwischen ein aufwendiges Schuhregal aus einem hellen tropischen Hartholz und eine Fußleiste aus demselben Material passte. Chevette hatte nie etwas aus Holz Gefertigtes gesehen, was derart gut verarbeitet war. So wie das ganze Haus unter dem WG-Haus-Dreck, und sie hatte sich gefragt, was hier früher wohl für Leute gewohnt hatten und wie es für sie gewesen war, als sie wegziehen mussten. Wer sie auch gewesen sein mochten, nach dem Regal zu urteilen, hatten sie mehr Schuhe gehabt, als Chevette in ihrem ganzen Leben besessen hatte.
Ihr Tornister stand am Ende des schmalen Schaumstoffbettes. Noch gepackt, wie Tessa gesagt hatte. Aber offen.
Daneben die Netztasche mit ihren Toiletten- und Schminksachen. Obendrüber hing Skinners alte Motorradjacke breitschultrig und selbstbewusst auf einem schicken Holzbügel. Das einstige Schwarz war der Abnutzung und dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen, und nun war das Pferdeleder fast grau. Älter als sie, hatte er gesagt. Neue schwarze Jeans waren daneben über die Stange drapiert. Die nahm sie herunter und wrögelte die Füße aus den Fahrradschuhen. Zog die Jeans über die Shorts. Ein schwarzes Sweatshirt aus dem offenen Maul des Tornisters. Der Geruch von sauberer Baumwolle, als sie es sich über den Kopf zog; sie hatte bei Carson alles gewaschen, als sie beschlossen hatte, ihn zu verlassen. Sie hockte sich ans Fußende des Schaumstoffs und schnürte hohe Stiefel mit ausgeprägten Profilsohlen zu. Keine Socken. Stand auf und nahm Skinners Jacke vom Bügel. Sie war schwer, als hätte sie das Gewicht von Pferden gespeichert. Chevette fühlte sich sicherer darin. Sie dachte daran, wie sie in San Francisco immer damit rumgefahren war, trotz des Gewichts. Eine Art Rüstung.
»Komm schon.« Tessas leise Stimme aus dem Wohnzimmer.
An dem Tag, als sie sich kennengelernt hatten, war Tessa mit einem anderen Mädchen – einer Südafrikanerin — zu Carson gekommen, um ihn
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