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Idoru-Trilogie - Gibson, W: Idoru-Trilogie - Virtual Light/Idoru/All Tomorrow´s Parties

Idoru-Trilogie - Gibson, W: Idoru-Trilogie - Virtual Light/Idoru/All Tomorrow´s Parties

Titel: Idoru-Trilogie - Gibson, W: Idoru-Trilogie - Virtual Light/Idoru/All Tomorrow´s Parties Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Obstpyramiden unter summendem Neonlicht. Er sieht zu, wie der Junge einen zweiten Liter dickflüssigen Fruchtsaft trinkt, den gesamten Inhalt des großen Plastikbechers scheinbar mühelos in sich hineinschüttet, ohne auch nur einmal abzusetzen.
    »Kalte Sachen soll man nicht so schnell trinken.«
    Der Junge sieht ihn an. Zwischen seinem Blick und seinem Wesen ist nichts: keine Maske. Keine Persönlichkeit. Taub ist er offenbar nicht, denn er hat durchaus verstanden, dass er ein kaltes Getränk bekommen sollte. Aber bisher gibt es kein Anzeichen dafür, dass er auch sprechen kann.
    »Sprichst du Spanisch?« In der Sprache Madrids, die er schon viele Jahre nicht mehr gesprochen hat.
    Der Junge stellt den leeren Becher neben den ersten und sieht den Mann an. Er hat keine Furcht.
    »Die Männer, die mich angegriffen haben – waren das deine Freunde?« Er zieht eine Augenbraue hoch.
    Nichts.
    »Wie alt bist du?«
    Älter als sein seelisches Alter, schätzt der Mann. Spuren rasierter Bartstoppeln oberhalb der Mundwinkel. Braune Augen, klar und friedlich.
    Der Junge sieht die beiden leeren Plastikbecher auf dem abgewetzten Stahltresen an. Er blickt zu dem Mann auf.
    »Noch einen? Willst du noch einen?«
    Der Junge nickt.
    Der Mann gibt dem Italiener hinter dem Tresen ein Zeichen und wendet sich wieder dem Jungen zu.

    »Hast du einen Namen?«
    Nichts. Nichts regt sich in den braunen Augen. Der Junge betrachtet ihn so ruhig wie ein friedfertiger Hund.
    Die silberne Passiermaschine inmitten der aufgestapelten Früchte tuckert kurz. Zerstoßenes Eis strudelt ins Fruchtfleisch. Der Italiener gießt das Getränk in einen Plastikbecher und stellt ihn vor den Jungen hin. Der Junge sieht den Becher an.
    Der Mann verlagert sein Gewicht auf dem knarrenden Metallhocker. Sein langer Mantel hängt wie ein Flügelpaar in Ruhestellung herab. Unter seinem Arm schwingt das inzwischen sorgfältig gereinigte Messer in seiner magnetischen Scheide ungehindert hin und her; es schläft.
    Der Junge hebt den Becher hoch, öffnet den Mund und lässt sich das breiige Gemisch aus Eis und Fruchtfleisch durch die Kehle rinnen.
    Schwachsinnig, denkt der Mann. Syndrome des tragischen Schoßes der Stadt. Das Signal des Lebens, verzerrt von Chemikalien, Hunger und Schicksalsschlägen. Dennoch: Wie jeder andere, wie der Mann selbst, ist er genau das, was er sein soll — wo er es sein soll und auch wann. Das ist das Tao: Dunkel im Dunkel.
    Der Junge stellt den leeren Becher neben die anderen beiden. Der Mann streckt die Beine, steht auf und knöpft sich den Mantel zu.
    Der Junge langt nach der Armbanduhr; die der Mann am linken Handgelenk trägt, und berührt sie mit zwei Fingern. Er öffnet den Mund, als wollte er etwas sagen.
    »Wie spät?«
    Etwas bewegt sich in den affektlosen braunen Tiefen der Augen des Jungen.
    Die Uhr ist sehr alt. Der Mann hat sie bei einem Fachhändler in einer festungsartigen Einkaufspassage in Singapur erstanden. Eine Militärarmbanduhr. Sie erzählt ihm von Schlachten, die in einer anderen Zeit geschlagen wurden.
Sie erinnert ihn daran, dass alle Schlachten eines Tages gleichermaßen unverständlich sein werden und dass nur der Moment zählt, wirklich zählt.
    Der erleuchtete Krieger reitet in die Schlacht wie zum Begräbnis eines geliebten Menschen, und wie könnte es anders sein?
    Der Junge beugt sich jetzt vor. Das Ding hinter seinen Augen sieht nur die Armbanduhr.
    Der Mann denkt an die beiden, die er in dieser Nacht auf der Brücke zurückgelassen hat. Jäger, wenn man so will, aber nun werden sie nicht mehr jagen. Und an den hier; der ihnen gefolgt ist. Um Brosamen aufzulesen.
    »Gefällt sie dir?«
    Keine Reaktion. Nichts stört die Konzentration, nichts unterbricht die Verbindung zwischen dem, was hinter den Augen des Jungen aufgetaucht ist, und dem strengen schwarzen Zifferblatt der Uhr.
    Das Tao bewegt sich.
    Der Mann löst die Stahlschnalle, die das Armband hält, und gibt dem Jungen die Uhr. Er tut es, ohne nachzudenken. Er tut es mit derselben blinden Sicherheit, mit der er zuvor getötet hat. Er tut es, weil es passt, weil es richtig ist; weil sein Leben im Einklang mit dem Tao steht.
    Er braucht sich nicht zu verabschieden.
    Er geht davon, entfernt sich von dem in die Betrachtung des schwarzen Zifferblatts, der Zeiger versunkenen Jungen.
    Er geht jetzt. Der Moment ist im Gleichgewicht.

10 AMERIKANISCHE AKROPOLIS
    Rydell schaffte es, mit der brasilianischen Brille einen Teil des Straßennetzes von San Francisco

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