Idoru-Trilogie - Gibson, W: Idoru-Trilogie - Virtual Light/Idoru/All Tomorrow´s Parties
schemenhafte Spuren der Kettenglieder zum Vorschein kamen, während die Klinge geschmiedet, gelöscht, geformt und auf der Scheibe poliert wurde.
Sie fragt sich, was aus diesem Messer geworden ist.
Sie hatte zugesehen, wie der Hersteller ein Messingheft angefertigt und erhitzt, wie er laminierte Platinenstücke drangenietet und auf einem Schleifband geformt hatte. Die starren, spröde wirkenden Platinen aus etlichen in grünes Phenolharz eingeschlossenen Materialschichten waren überall auf der Brücke zu finden; auf den Mülldeponien lagen sie en masse herum. Jede Platine wies Muster aus mattiertem Metall auf, die an Städte und Straßen erinnerten. Wenn sie von den Ausschlachtern kamen, waren sie mit Komponenten bestückt, die sich mit einem Schweißbrenner, der das graue Lötzinn schmolz, leicht entfernen
ließen. Die Komponenten fielen ab, und übrig blieben die versengten grünen Platinen mit ihren eingeschweißten Folienplänen imaginärer Städte, Überreste des zweiten Elektronikzeitalters. Und Skinner hatte ihr immer erzählt, dass diese Platinen unsterblich seien, so unvergänglich wie Stein, geschützt gegen Feuchtigkeit, ultraviolettes Licht und jede Art von Verfall; dass sie dazu bestimmt seien, den ganzen Planeten zu verschandeln, und dass man sie darum wiederverwerten und nach Möglichkeit in die Struktur der Dinge einarbeiten solle, das richtige Material, wenn etwas haltbar sein müsse.
Sie weiß, dass sie jetzt allein sein muss, und deshalb hat sie Tessa auf der unteren Ebene zurückgelassen, wo sie mit Gottes kleinem Spielzeug visuelle Textur sammelt. Chevette kann es nicht mehr hören, dass Tessas Film persönlicher sein müsse, dass er von ihr, Chevette, handeln müsse, aber Tessa ist einfach nicht imstande, die Klappe zu halten und Chevettes Nein zu akzeptieren. Chevette erinnert sich, wie Bunny Malatesta, ihr Vermittler in ihren hiesigen Kurierzeiten, immer gesagt hat: »Und was genau verstehst du nicht an dem ›Nein‹?« Bunny konnte solche Sprüche von sich geben, als wäre er eine Naturgewalt, aber Chevette weiß, dass sie das nicht kann, dass ihr Bunnys Schwere fehlt, die schiere Wucht, die man braucht, um so was rüberzubringen.
Darum hat sie eine Rolltreppe zur oberen Ebene genommen, eine, an die sie sich nicht erinnern kann, und lenkt ihre Schritte nun, ohne weiter darüber nachzudenken, zum Fuß ihres Turms. Das wässrige Licht hat sich in einen dünnen, böigen Regen verwandelt, der durch die zerfledderte Second-Hand-Überbauung der Brücke weht. Die Leute nehmen ihre Wäsche von der Leine, und es herrscht eine allgemeine hektische Betriebsamkeit, wie immer vor einem Sturm, aber Chevette weiß, dass sich das wieder legen wird, wenn das Wetter sich ändert.
Bis jetzt hat sie noch kein einziges Gesicht gesehen, das sie von früher kennt, niemand hat sie gegrüßt, und sie ertappt sich bei dem Gedanken, dass die gesamte Brückenbevölkerung in ihrer Abwesenheit ausgetauscht worden ist. Nein, da war gerade die Frau vom Bücherstand, die mit den Elfenbeinstäbchen in ihrem gefärbten schwarzen Haarknoten, und sie erkennt den koreanischen Jungen mit dem schlimmen Bein, der den rumpelnden Suppenwagen seines Vaters schiebt, als müsste der Bremsen haben.
Der Turm, den sie jeden Tag zu Skinners Sperrholzbude hinaufgefahren ist, ist vollständig umbaut, sein Eisen verbirgt sich im Kern eines organischen Komplexes von Räumen, in denen speziellen Tätigkeiten nachgegangen wird. Hinter straffen, milchigen Plastikbahnen, die im Wind vibrieren, wirft das unirdische Licht eines Hydrokulturbetriebs übergroße Blätterschatten. Sie hört das Schnarren einer Elektrosäge aus der winzigen Werkstatt eines Möbeltischlers, dessen Assistent geduldig Wachs in eine kleine Bank aus farbfleckigem Eichenholz reibt, das aus den ausgeschlachteten Hülsen älterer Häuser stammt. Jemand anders macht Marmelade; der große Kupferkessel wird von einem Propangasring erhitzt.
Ideal für Tessa, denkt sie: Die Brückenbewohner behalten ihre Interstitien bei. Machen ihren Kleinkram. Aber Chevette hat sie gesehen, wenn sie besoffen waren. Hat Drogenberauschte und Wahnsinnige in den Tod stürzen sehen, hinunter in die graue, erbarmungslose, kabbelige See. Hat Männer mit Messern auf Leben und Tod kämpfen sehen. Hat eine Mutter mit einem erstickten Kind in den Armen in der Morgendämmerung kopflos umherirren sehen. Die Brücke ist keine Touristenfantasie. Die Brücke ist real, und hier zu leben hat seinen
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