Idoru
scharf auf eine Kopie, aber bisher hatte sie nur eine Reihe schäbiger TV-Spots für das fünfte Konzert im Mexico Dome dafür geboten.
Die waren jedoch auch nicht annähernd schäbig genug, und Chia war nicht bereit zu tauschen. Gerüchten zufolge gab es eine Dokumentation der Brasilientour, angeblich von einer Globo-Tochter, die im öffentlichen Netz sendete. Die wollte Chia haben, und Mexiko lag schließlich in der gleichen Richtung wie Brasilien.
Sie fuhr mit einem Finger über die aufgestapelten Scheiben, ihre Hand ein Drahtgitter, die Fingerspitze aus zitterndem Quecksilber, und dachte über das große Gerücht nach. Es hatte schon früher Gerüchte gegeben, es gab jetzt welche, und es würde immer welche geben. Zum Beispiel das Gerücht damals über Lo und das dänische Model, daß sie heiraten würden; das hatte wahrscheinlich gestimmt, auch wenn sie es nicht getan hatten. Und es gab immer Gerüchte um Rez und verschiedene Leute. Aber das waren eben irgendwelche Leute. Das dänische Model war irgendwer, auch wenn Chia sie für eine eingebildete Dummnudel hielt. Mit dem großen Gerücht war das was anderes.
Was genau, wollte sie in Tokio rausfinden. Deshalb war sie dorthin unterwegs.
Sie wählte Lo/Rez Skyline.
Das virtuelle Venedig, das ihr Vater ihr zum dreizehnten -45—
Geburtstag geschickt hatte, sah wie ein altes, staubiges Buch mit Ledereinband aus. Das glatte braune Leder war an einigen Stellen zu feinem Wildleder aufgerauht, das digitale Äquivalent von Jeans, die in einer Maschine voller Golfbälle gewaschen worden waren. Es lag neben einer nichtssagenden, strukturlosen grauen Datei, ihrer Kopie des Scheidungsurteils und der Sorgerechtsvereinbarung.
Sie zog das Venedig zu sich heran und öffnete es. Die Fische flimmerten phasenverschoben, und ihr System stürzte sich in eine Subroutine.
Venedig wurde dekomprimiert.
Die Piazza in winterlichem Schwarzweiß mit ihren Texture-Map-Fassaden – Marmor, Porphyr, polierter Granit, Jaspis und Alabaster (die wohlklingenden Namen der Mineralien liefen auf Wunsch durchs Menü am Blickfeldrand). Die Stadt der geflügelten Löwen und goldenen Pferde. Diese Default-Stunde grauer, ewiger Morgendämmerung.
Hier konnte sie allein sein oder mit dem Music Master schwatzen.
Ihr Vater, der aus Singapur angerufen hatte, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren, hatte ihr erzählt, Hitler habe sich bei seinem ersten und einzigen Besuch weggestohlen, um in ebendiesen frühen Morgenstunden allein durch die Straßen zu streifen. Er sei wie ein Hund getrabt; vielleicht sei er verrückt gewesen.
Chia, die nur eine vage Vorstellung hatte, wer Hitler gewesen sein mochte, zudem noch in erster Linie aus Songs, in denen er erwähnt wurde, verstand diesen Drang. Die Steine der Piazza strömten wie Seide unter ihr dahin, als sie einen silbrigen Finger hob und in das Labyrinth aus Brücken, Wasser, überwölbten Gängen und Mauern raste.
Sie hatte keine Ahnung, was dieser Ort bedeuten sollte, wußte nichts von seinem Wie und Warum, aber er war in -46—
einem solch vollkommenen Einklang mit sich selbst und paßte so perfekt in den Raum, den er einnahm; Wasser und Stein fügten sich nahtlos in das geheimnisvolle Ganze ein.
Die tollste Software aller Zeiten, und nun kamen die Einleitungsakkorde von ›Positron Premonition‹.
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Knotenpunkte
C linton Emory Hillman, fünfundzwanzig: Friseur, Sushi-Koch, Musikjournalist, Porno-Komparse, zuverlässiger Lieferant von verbotenen fötalen Gewebekulturen an drei der pyknischeren Mitglieder der entschieden netzkappigen Dukes of Nuke ’Em, deren ›Gulf War Baby‹ in den Billboard-Charts auf Platz achtzehn stand (Tendenz steigend), auf I (heart) America pausenlos gedudelt wurde und bereits zu diplomatischen Protesten etlicher islamischer Staaten geführt hatte.
Kathy Torrance sah aus, als könnte sie durchaus erfreut sein.
»Und das fötale Gewebe, Laney?«
»Na ja«, sagte Laney und legte den Datenhelm neben den Computer, »ich glaube, das könnte das Gute daran sein.«
»Wieso?«
»Es muß aus dem Irak kommen. Da bestehen sie ausdrücklich drauf. Sie wollen sich nichts anderes spritzen.«
»Sie sind engagiert.«
»Wirklich?«
»Sie müssen die Anrufe in Ventura mit den Parkgebühren der Garage im Beverly Center korreliert haben. Obwohl dieser Dauerscherz mit den ›Gulf War Babys‹ ja nun wirklich kaum zu übersehen war.«
»Moment mal«, sagte Laney. »Sie wußten es schon.«
»Ist das Hauptthema der
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