Idoru
Bildschirm war herabgeklappt, so daß sie dessen Rückseite als Tablett benutzen konnte, und sie hatte ein weiteres Glas des eisgekühlten Tomatensafts ausgetrunken, den ihr der Flugbegleiter gegen Bezahlung unablässig brachte. Aus irgendeinem Grund standen immer rechteckige
Selleriestückchen drin, wie Strohhalme oder Rührstäbchen, aber die schien die Blonde nicht zu mögen. Sie hatte fünf davon in einem Rechteck aufs Tablett geschichtet, wie ein Kind die Mauern eines kleinen Hauses oder einen Korral für Spielzeugtiere bauen würde.
Chia schaute auf ihre Daumen auf dem Air-Magellan-Wegwerf-Touchpad. Und wieder hinauf in die mit Mascara umrandeten Augen. Die sie jetzt ansahen.
»Es gibt einen Ort, wo’s immer hell ist«, sagte die Frau.
»Überall helles Licht. Nirgends Dunkelheit. Hell wie ein Nebel, wie etwas, das von oben runterkommt, andauernd, jede Sekunde. All die Farben. Türme, von denen du die Spitze nicht sehen kannst, und das Licht kommt runter. Unten stapeln sie Bars. Bars und Stripclubs und Diskos. Aufgestapelt wie kleine Schuhkartons, eine über der andern. Und ganz gleich, wie tief du dich reinzwängst, ganz gleich, wie viele Treppen du -40—
hochsteigst, wie viele Aufzüge du benutzt und wie klein der Raum ist, in dem du schließlich landest, das Licht findet dich trotzdem. Es ist ein Licht, das wie Pulver unter der Tür reinweht. Fein, so fein. Weht dir unter die Lider, wenn’s dir doch mal irgendwie gelingt, einzuschlafen. Aber man will da ja gar nicht schlafen. Nicht in Shinjuku. Oder?«
Chia war sich auf einmal der schieren physischen Masse des Flugzeugs bewußt, der schrecklichen Unwahrscheinlichkeit seiner Passage durch den Raum, seiner Zelle, die irgendwo über dem Meer durch eisige Nacht vibrierte, jetzt gerade vor der Küste von Alaska – unmöglich, aber wahr. »Nein«, hörte Chia sich sagen, als Skull Wars ihre Unaufmerksamkeit registrierte und sie eine Ebene zurückwarf »Nein«, pflichtete ihr die Frau bei, »das will man nicht. Ich weiß. Aber sie bringen dich dazu. Sie bringen dich dazu. Im Mittelpunkt der Welt.« Und dann legte sie den Kopf zurück, schloß die Augen und begann zu schnarchen.
Chia verließ Skull Wars und steckte das Touchpad in die Tasche an der Rückenlehne. Sie hätte am liebsten laut geschrien. Worum war es da eben gegangen?
Der Flugbegleiter kam vorbei, sammelte den Korral aus Selleriestückchen mit einer Serviette auf, nahm das Glas der Frau, wischte das Tablett ab und klappte es wieder in die Lehne zurück.
»Meine Tasche!« sagte Chia. »Im Gepäckfach!« Sie zeigte nach oben.
Er machte die Klappe über ihr auf, zog ihre Tasche heraus und legte sie ihr auf den Schoß.
»Wie kriegt man die ab?« Sie berührte die Schlaufen aus zähem roten Gelee, die die Reißverschlußlaschen zusammenhielten.
Er nahm ein kleines schwarzes Werkzeug aus einem schwarzen Halfter an seinem Gürtel. Mit so einem ähnlichen -41—
Ding hatte sie schon mal einen Tierarzt die Krallen eines Hundes beschneiden sehen. Er hielt die andere, hohle Hand darüber, um die kleinen Kugeln aufzufangen, in die sich die Schlaufen verwandelten, als er sie mit dem Gerät durchschnitt.
»Okay, wenn ich den hier benutze?« Sie zog einen Reißverschluß auf und zeigte ihm ihren Sandbenders, der zwischen vier zusammengerollte Strumpfhosen gestopft war.
»Dafür gibt’s hier keinen Port; nur in der Business-Class oder der ersten«, sagte er, »aber an Ihre eigenen Daten kommen Sie ran. Ich bring Ihnen ein Verbindungskabel zum Rückenlehnendisplay, wenn Sie wollen.«
»Danke«, sagte sie, »ich hab ’ne Brille.« Er ging weiter.
Das Schnarchen der Blonden stockte, als sie über ein Luftloch mit Turbulenzen holperten. Chia klaubte die Brille und die Fingersets aus ihren Nestern aus sauberer Unterwäsche und legte sie neben sich, zwischen Hüfte und Armlehne. Sie zog den Sandbenders heraus, machte die Tasche zu und verkeilte sie mit der freien Hand und beiden Füßen unter dem Vordersitz. Sie konnte es kaum erwarten, hier rauszukommen.
Mit dem Sandbenders quer über den Schenkeln ließ sie einen Batteriecheck laufen. Acht Stunden im Sparmodus, wenn sie Glück hatte. Aber im Moment war ihr das egal. Sie rollte das Kabel vom Steg zwischen den Brillengläsern ab und steckte es ein. Die Fingersets hatten sich verheddert, wie immer. Laß dir Zeit, sagte sie sich. Ein zerrissenes Sensorband, und sie würde hier die ganze Nacht mit einem Ashleigh-Modine-Carter-Klon hocken. Kleine silberne
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