Idylle der Hyänen
Darauf können wir noch keine Antwort geben. Der Fundort der Leiche ist nicht der Haupttatort, wir beschäftigen uns also mit mehreren Tatorten. Einen Durchsuchungsbeschluß für sämtliche Wohnungen werden wir nicht bekommen. Außerdem muß die Frau nicht im Haus getötet worden sein.«
In einem der vier Zimmer klingelte ein Telefon. Walter Gabler stand auf und ging hinaus.
»Um Dr. Dornkamm zu zitieren«, sagte Fischer – eine Redensart, die auch seine Kollegen gern benutzten –, »unter uns und ohne Zeugen: Ich halte es nicht für wahrscheinlich, daß die Leiche von außerhalb in die Tiefgarage transportiert worden ist.«
»Warum?« fragte Liz Sinkel. Einer der Gründe, weshalb Fischer die Nähe der jungen Oberkommissarin suchte, war ihre kindliche Warum-Besessenheit; die Einschätzung einiger Kollegen, Liz würde bei allem berechtigten Ehrgeiz gelegentlich die Grenze zur Naivität überschreiten, teilte er nicht; ihn zwang Liz Sinkels unbefangenes Auftreten zu größtmöglicher Genauigkeit und Wachsamkeit.
»Was könnte einen Täter dazu bringen, sein Verbrechen auf eine solch aufwendige und riskante Weise zu verschleiern? Er hat die Frau erhängt, er muß die Leiche vom Tatort A wegschaffen, er kann sie irgendwo hinbringen, wieso ausgerechnet in einen Wohnblock, in dem etwa dreihundert potentielle Zeugen auf ihn warten? In eine Tiefgarage, wo er jeden Moment mit einem ankommenden oder abfahrenden Auto rechnen muß? Oder mit spielenden Kindern? Abgesehen davon kennt er sich aus. Wir können nicht allen Ernstes annehmen, daß der Täter auf der Suche nach einem Versteck war.« Er sah Liz an. »Wie lange würde der Weg von draußen dauern? Er kommt an, hält vor dem verschlossenen Tor – vielleicht war es offen, und er fährt einfach rein, sehr viel Zufall –, er muß warten, holt den Schlüssel heraus, sperrt auf, fährt die Rampe hinunter, parkt vor dem Gitter. Er steigt aus, knackt das Schloß, schleppt die Tote vom Kofferraum zum Schrank, legt sie ab, öffnet den Schrank, legt sie hinein, was nicht einfach ist, er muß sie so drapieren, daß sie nicht herauskippt. Dann macht er den Schrank zu, schließt das Gitter, fährt weg. Fünf Minuten, keine Sekunde weniger, eher zehn Minuten. Man trägt keinen toten Menschen einfach so durch die Gegend. Hältst du das für möglich?«
»Warum nicht?«
Gabler kam mit einem Zettel, den er während des Telefonats beschrieben hatte, an den Tisch zurück und setzte sich.
»Ich halte die Variante für abwegig«, sagte Neidhard Moll. »Der Täter weiß, daß wir die Identität der Frau schnell ermitteln werden und nicht nur…«
»Na und?« sagte Liz. Einen Kollegen zu unterbrechen, hatte sie bisher noch nicht gewagt; es kam überhaupt selten vor, daß die Kommissare sich gegenseitig ins Wort fielen. Bevor Moll seine Irritation formulieren konnte, sagte Liz:
»Entschuldigung. Ich find, wir sollten gar nichts ausschließen. Abwegig wär so ein Verhalten auf jeden Fall, aber Abwegigkeit ist doch normal bei den Leuten, mit denen wir es zu tun haben.«
Anstatt seine Überlegungen weiter auszuführen, sah Moll zu Gabler hinüber.
»Eine Frau hat angerufen«, sagte Gabler. »Eine Chinesin, sie ist die Wirtin des Blue Dragon , das ist ein Lokal in der Landwehrstraße. Sie hat die Zeitung gesehen und das Foto der Frau, sie glaubt, sie erkannt zu haben, sie weiß nicht, wie sie heißt, aber die Frau war ein paarmal mit einem Mann bei ihr zum Essen, vor zwei oder drei Monaten.«
»Vor zwei oder drei Monaten?« sagte Silvester Weningstedt. »Ist da so wenig los, daß sie sich an einzelne Gäste erinnern kann?«
»Scheint so.«
»Wir fahren heute noch hin«, sagte Fischer.
»Kann sie den Mann beschreiben?«
»Vage.«
»Die Frau aber schon.«
»Sie hat sie wiedererkannt, aber nicht hundertprozentig.«
Ob die Wirtin die Frau aus dem Gedächtnis hätte beschreiben können, war eine andere Sache. Fischers Archiv aus aberwitzigen Personenbeschreibungen von Zeugen, die auf ihre Beobachtungsgabe einen Eid schwören würden, quoll über.
»Vielleicht ist der erste Nagel in Reichweite«, sagte Fischer.
»Hoffen wir’s«, sagte Moll. »Zurück zur Handlungsweise des Täters. Daß er von außen kam, erscheint mir nicht nur abwegig, sondern absurd, viel zu riskant, selbst wenn er mitten in der Nacht die Leiche transportiert. In so einem Hochhaus muß man ständig damit rechnen, daß einem jemand über den Weg läuft. Dieses Risiko geht niemand ein, der eine Leiche
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