Idylle der Hyänen
wartet eineinhalb Tage, daß jemand zur Tür reinkommt?«
»Nein.«
»Nein. Und was machen wir jetzt?«
»Du gehst nach Hause, und ich gehe zurück ins Büro.«
»Ich geh nicht nach Hause, wieso fahren wir nicht zu der Wohnung?«
»Weil Esther und Micha schon dort sind.«
»Und wenn das Mädchen auch tot ist?« Liz hatte immer noch Hunger, aber keine Lust mehr zu essen.
Fischer winkte der Wirtin und legte einen Geldschein auf den Tisch.
Als sie draußen an der Kreuzung standen und es wieder anfing zu nieseln, war Liz froh, sofort ein freies Taxi zu erwischen und nicht mehr sprechen zu müssen. Manchmal überfiel sie eine solche Müdigkeit, daß sie dachte, ihr Beruf, ihr Leben überhaupt seien eine Bürde, die nur aus Versehen auf ihr abgeladen worden sei; dann schleppte sie sich jeden Morgen noch gebeugter als sonst durch die Burgstraße.
»Bis um sieben«, sagte Fischer und schlug behutsam die hintere Wagentür zu. Als das Taxi vor Liz’ Wohnung in der Kreillerstraße im Stadtteil Berg am Laim hielt, mußte der Fahrer die Kommissarin wecken.
Zur gleichen Zeit durchquerte Fischer zum zweitenmal an diesem Abend die Fußgängerzone. Er dachte an die grüne Hose des Mannes, die die chinesische Wirtin erwähnt hatte, und an ein Gesicht, das unrasiert war.
4
Die Wirklichkeit der Zeitungen und Tiefgaragen
S ie hatte keine große Angst; im Auto roch es nach Orangen, und es war warm. Sie waren über die Grenze gefahren, aber sie wußte nicht, was das bedeutete; sie hatte gar nichts bemerkt, keinen Huckel, keinen Buckel, und dann hat der Mann gesagt: Jetzt sind wir über der Grenze. Zweimal hat er das gesagt.
Und dann ist wieder nichts passiert, sie fuhren einfach weiter; weiter geradeaus. Aber vorher hatte sie sich im Kofferraum verstecken müssen, zur Vorsicht, damit uns niemand aufhält, hat der Mann gesagt, der das Auto fährt.
Er hatte sie von zu Hause abgeholt und ihr so was Großes versprochen, was sie sich nicht vorstellen kann, obwohl sie es sich schon oft vorgestellt hat. Sagte der Mann. Das war verwirrend, aber nicht schlimm.
Im Kofferraum hat sie Angst gehabt, die ist dann weggegangen; dann hat der Mann den Deckel schon wieder aufgemacht und sie aussteigen lassen, auf einem Rastplatz; dann haben sie gerastet. Sie hat ihm erzählt, daß sie noch nie in ihrem Leben gerastet hat, und ihn gefragt, ob das nur Erwachsene dürfen; nein, hat er geantwortet, das dürfen Kinder auch, und da hat sie in den Apfel gebissen und Toni auch ein Stück abgegeben, weil der auch noch nie gerastet hat.
Bevor sie fertig gegessen hatte, mußte sie schon wieder einsteigen, gern wäre sie noch geblieben und hätte den vorbeisausenden Autos zugesehen und gewartet, welcher riesige Bus als nächstes auf den Parkplatz, der eigentlich ein Rastplatz ist, einfährt und welche Menschen aussteigen, alte oder kleine mit Fotoapparaten. Der Mann sagte, wir müssen weiter, sonst verlieren wir zuviel Zeit. Das hat sie nicht verstanden: Kann man Zeit verlieren wie ein Geldstück? Und ist man dann arm, wenn man seine Zeit verloren hat, muß man dann betteln gehen? Ja, sagte der Mann, dann muß man betteln gehen um Zeit.
Aus dem Gasthaus brachte er Orangen mit, und so hat sie die Sache mit der Zeit wieder vergessen.
Toni mag gern Orangen; er ißt auch die Schale. Iß, sagt sie und hält ihm ein Stück Schale hin. Eigentlich heißt Toni Rudi, aber dann hat ihre Mama erzählt, der echte Rudi weit oben im Norden ist tot umgefallen, er hat einen Herzkasperl gekriegt, weil die Flugzeuge am Himmel so laut waren, das hat er nicht ausgehalten, da ist er lieber gestorben. Und weil sie keinen toten Rudi haben wollte, hat sie ihn umgetauft in Toni, jetzt ist er wieder lebendig. Das hat sie alles dem Mann auf der langen Reise von zu Hause bis über die Grenze erzählt.
Und er hat zugehört.
Jetzt wartet sie auf ihn. Vielleicht ruft er ihre Mama an, um ihr zu sagen, daß sie gut über die Grenze gekommen sind, ohne Huckel und Buckel; er hat nämlich gesagt, ihre Mama ist die ganzen Ferien unterwegs und deswegen ist er jetzt für ihre Erlösung zuständig. Was das ist, wollte sie wissen, und er hat gesagt: was Großes, Schönes, und sie durfte nicht weiter fragen. Daß sie ihre Mama allein gelassen hat, findet sie nicht richtig, aber der Mann, den sie schon oft gesehen hat, hat ihr erklärt, daß sie keine Zeit verlieren dürfen, sonst bekommt sie keine Erlösung; außerdem würde er sie bald wieder nach Hause bringen. Das hat er ihr
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