Idylle der Hyänen
Kripo in den oberen Stockwerken residierte, bezweifelte nicht nur der Oberbürgermeister. Im Parterre befand sich ein Trachtenmodengeschäft, dessen Inhaberin den Kontakt mit der Staatsgewalt auf das nötigste Grüß Gott beschränkte.
»Hörst du was?« fragte Weningstedt. Fischer horchte.
»Seit einer halben Stunde: Stille. Ist der Krach in letzter Zeit eigentlich noch schlimmer geworden, oder werd ich im Alter empfindlicher?«
»Die Nachbarn haben einen Brief ans Rathaus geschrieben«, sagte Fischer. »Sie wollen die Veranstaltungen im Zerwirkgebäude verbieten lassen.«
»Woher weißt du das?«
»Stand in der Zeitung.«
»Hab ich nicht gelesen.«
Wie auch? Weningstedt hatte eine in den Augen seiner Kollegen unverständliche Angewohnheit: Er las keine Tageszeitungen. Montags kaufte er sich ein Nachrichtenmagazin, das genügte ihm für die Woche; wenn es nicht anders ging, holte er sich aktuelle Informationen aus dem Internet oder setzte sich vor den Fernseher, was ihm, wie er betonte, sehr schwerfiel; sein Bedürfnis nach einer geräuschlosen Umgebung, besonders in der Freizeit, verlangte seiner sprechfreudigen, leidenschaftlich Einladungen organisierenden und spielfilmbegeisterten Ehefrau ein Höchstmaß an Geduld und Verständnis ab.
»Warum haben die uns nicht gefragt, ob wir auch unterschreiben wollen?« fragte Weningstedt.
»Hättest du das getan?«
Weningstedt trank schwarzen Tee aus einer Tasse, in die er tagsüber schwarzen Kaffee goß.
»Jetzt ist es ja still. Hier ist das Haus.«
Vor ihm lag ausgebreitet ein Stadtplan, dessen Farben glänzten. Bei jeder Ermittlung, die nicht innerhalb der ersten zwölf Stunden auf eine konkrete Festnahme zulief, benutzten sie einen neuen Plan, und Valerie Roland achtete darauf, daß immer mindestens zwei vorrätig im Schrank lagen; eine Marotte, ein Ritual, ein buchhalterischer Posten, den Polizeipräsident Linhard schon vor Jahren persönlich beanstandet hatte; ohne Erfolg; zunächst. Dann, an einem adventlichen Dezembertag, erhielt Valerie aus dem Präsidium die schriftliche Mitteilung, die sieben Euro pro Stadtplan seien auf der Ausgabenliste von nun an ersatzlos zu streichen, die vom Innenministerium geforderten und allgemein bekannten Einsparungen beträfen sämtliche Abteilungen der Polizei, auch das ohnehin schon unter privilegierten Bedingungen arbeitende Kommissariat 111. Seitdem ging Weningstedt einmal im Vierteljahr mit einem aus eigener Tasche bezahlten Hartplastiksparschwein von Schreibtisch zu Schreibtisch und bat um einen Obolus; so herrschte nie ein Mangel an druckfrischen Stadtplänen.
»Hier verläuft die U-Bahn.« Weningstedt folgte mit dem Zeigefinger der dünnen blauen Linie. »Wenn sie an dieser Haltestelle einsteigt, die liegt dem Nothkaufplatz am nächsten, und zwei Stationen fährt, braucht sie nur noch die Heiglhofstraße runterzulaufen bis Nummer 62. Oder sie steigt eine Station später aus, beim Klinikum, und überquert die Sauerbruchstraße. Alles keine Entfernungen. Vorausgesetzt, sie hat in dem Haus jemanden getroffen und die Tat wurde dort verübt.«
»Wo ist das Kind in der Zeit?« fragte Fischer. Noch bevor Fischer wieder im Kommissariat eingetroffen war, hatte Micha Schell angerufen und einen ersten Lagebericht geliefert. Demnach hielt sich das Mädchen nicht in der Wohnung seiner Mutter auf – Schell hatte den Schlüsseldienst zum Öffnen der Tür bestellt – und auch sonst nirgends in dem Vierparteienhaus, weder bei dem Ehepaar, das auf demselben Stockwerk wohnte und sich nicht erinnern konnte, wann es Mutter und Tochter zuletzt gesehen hatte, noch bei anderen Mietern, die nicht einmal die Namen ihrer unmittelbaren Nachbarn kannten. Esther Barbarov und Sigi Nick hatten auch den Keller und den kleinen Garten durchsucht und anschließend die mit Bäumen und Sträuchern bepflanzte, dreihundert Meter lange und zehn Meter breite Grünfläche in der Mitte des Nothkaufplatzes umrundet. Nach Meinung der beiden Fahnder wirkte die aus Wohn-, Schlaf und einem kleinen Kinderzimmer sowie einer engen Küche und einem Bad mit Toilette bestehende Wohnung aufgeräumt und »absolut belebt«, was hieß: Nichts deutete auf einen vorbereiteten oder überraschenden Aufbruch hin. Im Kühlschrank befanden sich Lebensmittel, deren Verfallsdatum noch lange nicht abgelaufen war, darunter zwei Tetrapaks mit frischer Milch und eine halbvolle Flasche Multivitaminsaft. Die Bettdecke im Schlafzimmer war ein Stück zurückgeschlagen, auf einem
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