Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Idylle der Hyänen

Idylle der Hyänen

Titel: Idylle der Hyänen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
versprochen.
    Das hat er mir versprochen, stimmt’s, Toni?
    Sie kaute auf dem Stück Orangenschale, das Toni nicht wollte, weil er müde ist, noch müder als sie. Sie darf nicht einschlafen, weil der Mann gleich wiederkommt und Kekse und Gummibärchen und eine Sonnenbrille für sie mitbringt; eine echte Sonnenbrille, hat er gesagt, und sie hat noch nie eine Sonnenbrille aufgehabt, das sieht doof aus, sagt ihre Mama. Mit einer Sonnenbrille, dachte Katinka und schaukelte sanft ihren Stoffelch, ist das Rasten doppelt interessant.
    Gehen war seine liebste Art, Wege zurückzulegen. Innerhalb der Stadt nutzte er jede Gelegenheit dazu, und er kam nie zu spät. Er kannte seinen Schritt und seine Kondition, und er achtete darauf, den Rhythmus zu halten, obwohl er sich nicht schnell bewegte, nicht einmal zügig. Mit seinen langen Beinen und seinem stämmigen, vorwärts treibenden Körper hätte er ohne Not den Weg vom Hauptbahnhof bis zum Kommissariat – eine Strecke von etwa zwei Kilometern – in zehn Minuten schaffen können, aber er dachte nicht daran.
    Wenn er es eilig hatte, benutzte er seinen klapprigen grünen Mitsubishi ohne Zentralverriegelung, aber mit Klimaanlage. Polonius Fischer lehnte Eile ab, er schätzte Pünktlichkeit, etwas, das sein früheres Leben geprägt hatte, etwas, dem er sich nie beugen wollte und das ihn wie eine Heimsuchung verfolgte und ihn zwang, auch andere Leute unter diese ihn beherrschende Knute zu bringen; gleichwohl verlor er nie ein Wort über jemanden, der zu spät kam; vermutlich war er sogar neidisch.
    In der Nacht von Sonntag auf Montag, vom neunundzwanzigsten auf den dreißigsten August, ließ er sich viel Zeit. Vage neugierig, sah er in die beleuchteten Schaufenster der Fußgängerzone, überlegte, ob er in einem Lokal ein schnelles Helles trinken sollte, um seinen von den Frühlingsrollen fettgetränkten Magen zu trösten.
    Er ging weiter, mit gleichmäßig fließenden Bewegungen; die meisten Fußgänger, die ihm entgegenkamen, warfen ihm einen Blick zu; unabsichtlich verbreitete er, der Großgewachsene, eine Aura von Stolz und Lässigkeit.
    Allmählich hatte der Strom seiner Gedanken sich seinem Gehen angepaßt. Fischer dachte an die grüne Hose, an das unrasierte Gesicht, an die gut duftende Frau, die Parfümverkäuferin vom Nothkaufplatz, an eine Suppe, an ein Hühnergericht, an den Tisch vor dem Aquarium. Er stellte sich das bescheidene, schlecht beleuchtete Restaurant vor, in dem er mit Liz gesessen hatte und das für ein Liebespaar als ideale Nische taugte. Ob die beiden etwas anderes hätten sein können als ein Liebespaar? Nein.
    Er dachte an den ausrangierten Schrank, den jemand statt eines Autos in der Tiefgarage abgestellt und in dem jemand anderes eine Leiche versteckt hatte. Er dachte an die Reporter und das Foto, über das die Wirtin des Blue Dragon mit ihrer schmalen, bleichen Hand gestrichen hatte.
    Und er dachte an das, was er Liz über die Routiniers und die Privatverbrecher erzählt hatte, und hielt inne.
    Die Schlagzeilen, dachte er unter den Arkaden eines Bekleidungsgeschäfts, würden mit den morgigen Ausgaben der Zeitungen und Fernsehmagazine beendet sein. Etwas Spektakuläreres als eine tote Frau in einem Schrank in einer Tiefgarage in einem schäbigen Hochhaus würden die Sensationsfanatiker nicht mehr geboten bekommen.
    Daran hatte Polonius Fischer keinen Zweifel: Das große Geschehen war vorüber, von nun an schrumpfte das Unsagbare auf Wörtergröße. Und sie würden keinen Satz offen enden lassen, er und seine zehn Kolleginnen und Kollegen vom Hundertelfer, sie würden den oder die Verbrecher finden und so lange befragen, bis die Akten für eine Anklage ausreichten; sie würden Antworten erhalten, die am Ende der Gerichtsverhandlung niemanden mehr interessierten. Vielleicht trumpften sie mit einem Geständnis auf, umschlossen von einer unzerschlagbaren Beweiskette, und ersparten sich so ein letztes öffentliches Aufbäumen aus Spekulationen, Unterstellungen, Vorwürfen und moralischen Anklagen. Der Schrank aus der Tiefgarage würde zerlegt und zersägt werden, und vielleicht klaute jemand ein Brett als Souvenir.
    Beim Weitergehen dachte Fischer an das Mädchen, das in einer Hochhaussiedlung verhungert war, weil seine Eltern es so wollten. Sie wurden verurteilt und eingesperrt, und neue Mieter zogen in die Wohnung; das war normal. Das Unsagbare blieb drei Millimeter groß zurück, man konnte es lesen und aussprechen. Es klang wahrlich

Weitere Kostenlose Bücher