Idylle der Hyänen
können. Sie übte zwar ihren gelernten Beruf nicht mehr aus – als junge Frau war sie Redakteurin gewesen und hatte fast doppelt soviel verdient wie ein Kommissar bei der Mordkommission –, aber sie hatte sich, nachdem sie freiwillig ihre Festanstellung gekündigt hatte, um sich abseits der monotonen, phantasiehemmenden Alltagsbürokratie ganz dem Schreiben widmen zu können, niemals vor einem Auftraggeber erniedrigt, nicht als Frau und nicht als Journalistin und erst recht nicht als Blondine mit hübscher Figur und als Schreiberin mit besonderen Fähigkeiten.
Ganz gleich, ob sie ihren Beruf je wieder ausüben würde, und abgesehen davon, daß sie sich im Stillen doch manchmal Vorwürfe wegen ihrer kompromißlosen, unverspielten, kontrollierten Art gegenüber Vorgesetzten machte: Der Aufwand und die Niederlagen und der Müll am Wegesrand – das alles war es wegen einer einzigen Begegnung wert gewesen, wegen eines einzigen Termins, eines einzigen Interviews.
Ihre letzte große Reportage hatte sie in das Büro eines Mannes geführt, der erst seit kurzem an seinem Schreibtisch saß. Mit neunzehn Jahren hatte er eine Ausbildung absolviert und eine Zeitlang in seinem Beruf gearbeitet, bevor er von einem Tag auf den anderen seine Dienstuniform ablegte und gegen einen Habit tauschte, den er dann neun Jahre lang trug. Nach dieser Zeit kehrte er – abermals zur vollkommenen Überraschung der ihm Nahestehenden – seiner Zelle den Rücken und erweiterte seine frühere Ausbildung, bis er eine Stelle in jener Abteilung bekam, die er schon als Neunzehnjähriger heimlich angestrebt hatte. Polonius Fischer, aufgestiegen zum Hauptkommissar im Kommissariat 111, sorgte schon mit seinem ersten Mordfall, dessen Aufklärung er als Sachbearbeiter verantwortete, für Aufsehen, nicht nur, weil er den Hauptverdächtigen innerhalb weniger Tage überführte, sondern vor allem, weil er sich mit dem Täter in eine Zelle des Untersuchungsgefängnisses hatte sperren lassen; dort legte der Mann, aufgewühlt von der Nähe des ehemaligen Mönchs, eine Art Lebensbeichte ab. Darüber hinaus hatte Fischer bei seiner Einstellung in den Mittleren Dienst auf einem eigenen Vernehmungsraum bestanden, eine absurd anmutende Forderung, die ihm der Polizeipräsident jedoch erfüllte, wobei diese Entscheidung im Kollegenkreis ein jahrelang anhaltendes Rätselraten über die Gründe auslöste. Fischer bekam eine Kammer mit einem winzigen Fenster zugeteilt, knapp acht Quadratmeter groß, die Platz für einen viereckigen Tisch mit zwei Stühlen und einen Bistrotisch in der Ecke bot, an dem die Protokollantin saß; an der Wand hingen ein Kruzifix, das Fischer abnahm, wenn Zeugen es wünschten, und ein Haken für seinen grauen Stetson, den er zwischen November und April fast täglich trug, und seinen Mantel. Bei seinen Kollegen hieß das Zimmer nur »das PF«, so wie er selbst von ihnen gewöhnlich »P-F« genannt wurde.
Über diesen Mann hatte Ann-Kristin Seliger ihre letzte Seite-Drei-Reportage geschrieben.
So hatte ihre Liebe angefangen, und sie dauerte nun beinah dreizehn Jahre.
»Freust du dich auf deinen Geburtstag?« fragte sie.
»Wie immer«, sagte Fischer.
»Erinner mich ja nicht daran, daß ich nächstes Jahr fünfzig werd. Du hast diese Grenze ja schon überschritten.«
»Danke.«
»Ein Wunder!« sagte Ann-Kristin. »Ein Zug mit Leuten, die noch Geld übrig haben, ist gekommen. Ich muß los, mein Herzensriese.«
»Bleib wachsam«, sagte Fischer.
Jedesmal, wenn sie darauf zu sprechen kamen und sie ihn bat, sich keine Sorgen zu machen, weil sie nachts unterwegs war, versprach er, in Zukunft ruhiger zu bleiben. Aber diese Zukunft begann nie.
In jedem der fünf Räume brannte eine Schreibtischlampe, vom Flur fiel das milchige Licht der Deckenbeleuchtung herein; auf dem niedrigen Aktenschrank in Weningstedts Büro flackerte im Windhauch, der durch das gekippte Fenster kam, eine nach Orangen duftende Kerze.
Bei der Sanierung des Gebäudes waren die Wohnungen im dritten Stock miteinander verbunden worden; anstelle der einen Küche entstand ein weiteres Zimmer, dafür erhielt die andere Küche Anschlüsse für Wasch und Spülmaschinen. Während der Arbeitszeiten blieb die Tür zum Treppenhaus offen, da auch die eine der beiden Wohnungen im zweiten Stock zur Mordkommission gehörte; dort hatte Valerie Roland, die Sekretärin und Protokollantin, ihren Arbeitsplatz, direkt gegenüber dem »PF«. Ob darunter jemand einziehen würde, solange die
Weitere Kostenlose Bücher