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Idylle der Hyänen

Idylle der Hyänen

Titel: Idylle der Hyänen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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unsäglich.
    Eine kalte, saubere, vordergründige, gleichgültige, gewöhnliche Großstadt, dachte Fischer beim Gehen, Hunderttausende Bewohner an der Armutsgrenze, Tausende ohne festen Wohnsitz, Zehntausende ohne Arbeit; und der Alltag; und die Wirklichkeit der Zeitungen und Tiefgaragen.
    Eigentlich müßten sie maßlos enttäuscht sein, die Spanner an den Zäunen seines polizeilichen Geheges: In den folgenden Tagen würde er ihnen die Geschichte eines oder mehrerer unauffälliger Menschen präsentieren, deren einzige über ihre eigene durchschnittliche Welt hinausragende Tat längst geschehen und von den dafür zuständigen Sprachrohren der Außenwelt ausgeschlachtet worden war. Das, was ihn, Fischer, an einem solchen schon wieder in die allgemeine Laune hinabgleitenden Menschen festhalten ließ, betraf einzig seine Gottesfürchtigkeit und Glaubensbesessenheit, und beides gehörte allenfalls in eine abseits gelegene Zelle, aber keinesfalls in den Ballsaal des täglichen Boulevards.
    Bevor er die letzten Meter zu seinem Büro hinter sich brachte, mußte er dringend mit jemand Bestimmtem sprechen.
    Er bückte sich und warf nacheinander einen Blick in jedes der vier wartenden Taxis; dann holte er sein Handy aus der Tasche, stellte sich in den Durchgang unter dem alten Rathausturm und tippte eine Nummer.
    Er erwischte sie an der Südseite des Hauptbahnhofs. Sie hätten sich begegnen können, wenn Fischer vom Blue Dragon aus nicht in Richtung Innenstadt gegangen wäre, sondern einen Schlenker gemacht hätte, um in der Halle bei den Gleisen noch ein Bier zu trinken. Dort kaufte sie nachts immer ihre Zeitung.
    »Ich habe dran gedacht.«
    »Wie geht’s dir?« fragte sie. »Ich hab den Bericht gelesen, wieder so ein abartiger Mord.«
    »Artige Morde gibt es nicht.«
    »Das weiß ich. Wie geht’s dir?«
    »Wir kennen inzwischen den Namen der Toten, wir sind unterwegs.«
    »Wie geht’s dir?«
    »Und dir?«
    »Ich hatte heut einen Gast, eine Frau, die bei einer dieser großen Fernsehillustrierten arbeitet, in Hamburg, sie war wegen der Pressevorführung eines Spielfilms hier. Sie sagte, sie planen einen Ableger, eine Extrazeitschrift nur für Spielfilme, Interviews und die Präsentation von DVDs; ein konkretes Konzept existiert schon, und sie suchen Mitarbeiter. Sie hat mir ihre Karte gegeben.«
    »Willst du doch wieder schreiben?«
    »Ich weiß nicht. Sie hat so viel erzählt auf dem Weg zum Flughafen. Scheint ein gutes Arbeitsklima zu sein, und von den Kolleginnen sind die meisten über Vierzig. Das hat sie ausdrücklich betont.«
    »Du hast doch nicht einmal einen Fernseher«, sagte Fischer.
    »Dann komm ich halt zu dir zum Schauen.«
    »Müßtest du wegen so eines Jobs nicht nach Hamburg ziehen?«
    »Ich bewerb mich eh nicht.« Sie setzte sich in ihr Taxi und fuhr im ersten Gang einen Meter weiter; vor ihr warteten fünf Kollegen auf Fahrgäste. Sie stieg aus und lehnte sich wie vorher an die Tür. Die Luft war mild, und wenn der Nieselregen aussetzte, roch es nach Asphalt.
    Ann-Kristin Seliger fuhr am liebsten nachts. Tagsüber zu schlafen bedeutete, daß sie weniger Zeit hatte, darüber nachzudenken, warum sie von einem bestimmten Moment an keinen Job als Journalistin mehr gefunden hatte und ihr Status als feste-freie Mitarbeiterin nichts mehr wert gewesen war. Schlafen half. Und nachts fremde Leute durch die Stadt zu kutschieren half noch mehr. Sie verdiente knapp tausend Euro im Monat und hatte weniger Zeit zu jammern als die Hundertschaften ihrer ehemaligen Kollegen, die Mitte der Neunziger entlassen worden waren und von denen die wenigsten ihr Auskommen bei anderen Medien gefunden hatten; die meisten hatten erst einmal ihre Zukunft unter einer Lawine von Klagen begraben und waren später, von sich selbst gedemütigt, als billige Hilfsarbeiter auf ihre alte Bühne zurückgekehrt, zufrieden damit, wenigstens am Rand dazuzugehören.
    Für Ann-Kristin hieß Taxifahren vor allem: für sich sein und allein verantwortlich, eine Dienstleisterin, die niemand herumkommandierte und die auf niemandes Wohlwollen und niemandes vertrauliches Getätschel angewiesen war. Sie steuerte ein Auto, und sie steuerte es gut, sie kannte sich mit den Straßen und den wichtigen Gebäuden aus, sie hatte mit Menschen zu tun, aber nicht zu lange und zu persönlich. Sie brauchte nicht vor dem Telefon zu sitzen und auf die Gnade einer Stimme zu warten. Und sie mußte nicht erst einen Liter Weißwein trinken, um eine Unterhaltung führen zu

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