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Idylle der Hyänen

Idylle der Hyänen

Titel: Idylle der Hyänen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Schraubenzieher das Schloß aufbrach und die tote Ines Gebirg von seinem Peugeot ins Innere des baufälligen, nur aus einem Raum bestehenden Hauses schleppte.
    Flies bat darum, vor der Leiche niederknien zu dürfen, und Weningstedt erlaubte es ihm, gegen den Willen von Fischer.
    Vor dem Haus, das sich am Rand einer blumenbunten Wiese und in unmittelbarer Nähe eines steilen Waldhangs befand, an dem Schafe grasten, hörte Fischer das helle Klingeln kleiner Glocken. Die Nachmittagssonne schien. Der Gesang der Vögel erfüllte die Luft, und auf den rotweißen Absperrbändern schaukelten Schmetterlinge.
    Als sein Handy klingelte, reagierte Fischer nicht sofort, sondern sah erst noch eine Weile über die Wiese, zur Kirche mit dem Zwiebelturm und der weißen Friedhofsmauer.
    Nach dem Telefonat fragte Weningstedt: »Ist der Vater von Ines Gebirg unterwegs?«
    »Das war ein Kollege von der Streife«, sagte Fischer. »Die Tochter der toten Nele Schubart ist aufgetaucht. Sie ist bei ihrem Vater im Getränkemarkt.«
    »Wie ist sie da hingekommen?«
    »Angeblich hat jemand sie abgesetzt, aber sie sagt nicht, wer.«
    »Ist sie verletzt?«
    »Der Kollege sagt, Katinka sieht braungebrannt und entspannt aus, als käme sie direkt von einer Ferienreise.«
    »Du fährst mit Liz sofort hin.«
    In Schrittempo näherte sich ein Streifenwagen und hielt vor der Absperrung.
    »Ich mach das«, sagte Weningstedt.
    Aber Fischer war schon auf dem Weg. »Bleib du beim Täter«, sagte er.
    Aus dem Streifenwagen wuchtete sich schwerfällig ein Mann in einer karierten Hose und einem weißen Kochhemd. Er sah den um zwei Köpfe größeren Kommissar auf sich zukommen, blinzelte gegen die Sonne und schwankte. Dann öffnete er weit den Mund, steckte die Knöchel seiner linken Faust zwischen die Zähne, starrte Fischer mit geweiteten Augen an und biß zu.
    Ein langgezogener, hoher Schmerzenslaut entrang sich der Kehle von Robert Gebirg.
    In einer Parkbucht, von der aus man den Laden gut erkennen konnte, kam das Auto zum Stehen.
    »Tust du alles, was ich dir gesagt habe?« fragte der Mann.
    »Ganz bestimmt«, sagte Katinka. »Mein Papa kriegt bestimmt einen Herzkasperl, wenn er mich sieht.«
    »Lauf jetzt!«
    »Und wann kommt meine Mama?«
    »Bald«, sagte der Mann, beugte sich nach hinten und zog den Türgriff auf. »Danke, daß du mit mir mitgekommen bist.«
    »Das war so schön am Meer, schade, daß wir schon wieder wegfahren mußten. Aber jetzt bin ich ganz erlöst, Papa.«
    »Du brauchst nicht mehr Papa zu mir sagen.« Toni, der Elch, winkte dem Mann zu. Katinka nahm die Einkaufstasche aus schwarzem Leder, die der Mann ihr geschenkt hatte, sprang aus dem Auto und rannte los.
    Als sie sich im Laufen noch einmal umdrehte, war das Auto aus der Parkbucht verschwunden.

DRITTER TEIL   Allein

18   Auf dem Arm des großen Mannes
    E r fuhr um den Block, bog vor einem indischen Restaurant in eine schmale Einbahnstraße und brachte den Wagen an der nächsten Ecke zum Stehen. Seine Hände zitterten. Er blickte in den Rückspiegel. Nichts an seinem Gesicht erinnerte an einen Aufenthalt an einem sonnigen Strand; tiefe Falten durchzogen die grauen Wangen, unter seinen von Müdigkeit gequälten Augen wölbten sich Halbmonde in einer schmutzigen Farbe. Er fragte sich, wie das Mädchen ihn die ganze Zeit so heiter ertragen hatte, ohne sich zu ekeln oder zu fürchten.
    Vielleicht hat sie mir einfach was vorgespielt, dachte er und lehnte sich zurück, schloß die Augen und riß sie wieder auf. Er durfte auf keinen Fall einschlafen! In ein paar Minuten würde der erste Streifenwagen auftauchen, und dann würden andere Polizisten kommen und das Viertel nach ihm absuchen und Leute befragen. Das Mädchen hatte versprochen, nichts zu sagen, und er vertraute ihr. Sie würde ihren Vater dazu bringen, sie anzunehmen; falls er sich weigern und auf die Idee verfallen sollte, sie in ein Heim zu stecken oder zur Adoption freizugeben, würde er ihn angemessen zur Rechenschaft ziehen.
    Wie Frau Nele Schubart. Er hatte jetzt Übung darin.
    Er startete den Motor. Nach Hause wollte er noch nicht. Er würde seine Frau anrufen und ihr erklären, er habe einen unerwarteten Auftrag in Augsburg oder Regensburg zu erledigen und komme erst morgen abend zurück. Er freue sich, sie wiederzusehen, er habe sie vermißt.
    Er fuhr los, in Richtung Rosenheimer Berg.
    Es war nicht die Schuld seiner Frau, daß er sie nie vermißte, daß er nie jemanden vermißte. Vermißte sie ihn? Er vermutete es.

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