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Idylle der Hyänen

Idylle der Hyänen

Titel: Idylle der Hyänen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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setzte an, etwas zu sagen, verstummte, streckte den Arm aus. Dann störte ihn die Entfernung. Absurd, dachte er, senkte den Arm, sah das Mädchen an. Die Veränderung in ihren Augen blieb ihm verborgen, weil er zu versponnen in sich selber war, im Licht der Abendsonne, die wie gezielt genau auf die Stelle vor dem Getränkemarkt schien, wo der große Mann und das kniende Mädchen reglos ausharrten.
    Die Sonne blendete ihn. Er wünschte, sie würde hinter den Dächern versinken und seinen Blick freigeben, den Blick auf den einen Satz, der sein Schweigen und das Schweigen des Mädchens beendete.
    Katinka bog ihren Körper zur Seite, umklammerte den Elch mit einem Arm, streckte erst das eine Bein aus, dann das andere, legte sich auf den Bauch, drückte das Tier mit beiden Armen an sich, vergrub ihren Kopf im Fell und lag quer auf dem Bürgersteig. Im Sonnenlicht wirkten ihre Jeans meerblau und ihr T-Shirt sonnenblumengelb; in schwarzen Wellen ergossen sich ihre Haare über den Asphalt.
    Nicht weit entfernt blieb eine Frau stehen. Als Fischer aufschaute, erkannte er seine Kollegin Liz. Vor Schreck fiel ihr das Foto aus der Hand, und sie traute sich nicht, es aufzuheben.
    Ein Zittern durchlief den schmächtigen Körper des Mädchens. Fischer hörte das Klacken der Sandalen, die von den zuckenden Beinen aneinandergeschlagen wurden, und ein erbarmungswürdiges Schluchzen.
    Aus dem Blumenladen trat eine junge Frau, aus den hochgesteckten Haaren ragten bunte Schmetterlinge. Ein dürrer Mann mit einem schiefen Schnurrbart, einer von Sobecks Mitarbeitern, reckte den Kopf nach draußen und trank Bier aus einer Flasche. Liz bückte sich ungelenk und griff nach dem Foto, machte einen Schritt und wartete auf eine Reaktion von Fischer. Auf der Warngaustraße hielt ein Auto und wurde von einem fluchenden Fahrradfahrer überholt.
    Das Schluchzen wurde lauter. Der Elch bebte wie das Mädchen.
    »Steh bitte auf.«
    Fischer dachte, er müsse sich niederknien und Katinkas Rücken streicheln, sie in den Arm nehmen, ihr etwas sagen, das sie verstehen könne. Er wußte, er durfte nicht länger dastehen. Die Leute um ihn herum delegierten ihre Ratlosigkeit an ihn. Er war Polizist, ein Kriminalbeamter, der solche Situationen kannte und Lösungen parat hatte. Zaudern war verboten. Wenn er Pech hatte, würde sein Verhalten morgen in den Zeitungen diskutiert und bewertet werden. Er mußte handeln, er war die Hauptfigur.
    Und er kniete sich hin und strich dem weinenden Mädchen über den Kopf. Er drückte sie, als sie ihren Widerstand aufgab, fest an sich und achtete darauf, daß ihr der Elch nicht entglitt.
    Dann stand er achtsam auf.
    Er setzte Katinka auf seinen Arm und hielt sie mit der anderen Hand fest. Ihr Gesicht war naß von Tränen, sie hatte einen Schluckauf, der sie schüttelte. Fischer tupfte ihr die Wangen und Augen mit einem Taschentuch ab, ließ sie schneuzen und steckte das Tuch wieder ein.
    Sie zu tragen fiel ihm nicht schwer, doch wohin er sie bringen sollte, wußte er nicht.
    Er ging ein paar Schritte auf und ab. Das Mädchen klemmte den Elch zwischen sich und ihn und hörte zu weinen auf. Dann steuerte sie schüchtern ihre Hand auf seine Nase zu und biß sich auf die Lippen. Weil er lächelte, kniff sie ihm mit Daumen und Zeigefinger in die fleischige Nase und strich an der Krümmung entlang, mehrmals hintereinander.
    »Auf deiner Nase kann man fast reiten«, sagte sie und schniefte. Sie nahm Tonis Vorderlauf und ließ ihn über die mächtige Nase fahren, nahm ihn schnell wieder weg, bevor der Mann vielleicht böse wurde. Der Mann war fast so nett wie der, den sie Papa nennen durfte, obwohl er gar nicht ihr Papa war, nur auf der Reise ans Meer. Die Zeit ist so schnell umgewesen. Das dachte sie jetzt alles auf einmal, weil der große Mann sie schaukelte und auf dem Arm trug, als wäre sie leicht wie ein Vogel. Sie dachte: Meine Mama ist tot, und ich weiß nicht, warum; aber warum, das hatte sie noch nie gewußt. Und sie dachte: Warum muß ich zu Hause bleiben, wenn Mama weggeht und weg ist den ganzen Tag und die ganze halbe Nacht? Das hab ich noch nie gewußt, warum sie mich einsperrt, obwohl ich nichts getan hab, und mich in meinem Zimmer allein läßt? Das hab ich noch nie gewußt, warum ich nach der Schule immer in das Kaufhaus gehen und dort bleiben muß in einem kalten Zimmer und Hausaufgaben machen und lernen muß und nie was spielen darf, wo tausend Spielzeuge im Kaufhaus liegen. Das hab ich noch nie gewußt, warum

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