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Idylle der Hyänen

Idylle der Hyänen

Titel: Idylle der Hyänen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Schließlich wartete sie von dem Moment an auf ihn, in dem er durch die Tür ging, und er wußte, sie winkte ihm hinter der Gardine; aber er drehte sich nie um. Auf offener Straße jemandem zu winken, der nicht zu sehen war, kam ihm kindisch vor und lächerlich. Seine Frau hatte ein schwieriges Wesen. Manchmal redete sie tagelang nur das Nötigste und weinte nachts hinter vorgehaltenen Händen. Er hatte gelernt, nachsichtig zu sein. Vielleicht war er nur gleichgültig. Aber er war da, er war gern da. In ihrer Nähe ermordete er sich seltener als anderswo.
    Als er die Eintrittskarte für das Dampfbad kaufte, drehte er erschrocken den Kopf, weil er sich eingebildet hatte, die Stimme seiner Frau zu hören. Doch an der Eingangstür stand bloß ein alter Mann, preßte eine mit Handtüchern vollgestopfte Plastiktüte an seine Wange und murmelte vor sich hin.
    Sie saß vor dem Laden auf einem weißen Plastikstuhl, die Arme auf die Lehnen gestützt, mit baumelnden Beinen, und reckte – mit ernster, konzentrierter Miene wie eine Urlauberin, die ihren Genuß zelebriert – ihr Gesicht in die Sonne. Polonius Fischer saß auf einem wackeligen Holzstuhl, den er sich aus dem Blumengeschäft nebenan geliehen hatte, vornübergebeugt, mit gefalteten Händen, angespannt. Eigentlich bedeutete das für alle »zwölf Apostel« überraschende Auftauchen des Mädchens einen gewaltigen Fahndungsschritt nach vorn; normalerweise hätten sie innegehalten und die Strategie der letzten vor ihnen liegenden Meter auf eine Weise geplant, die es ihnen ermöglichen würde, den Fall innerhalb der nächsten Tage abzuschließen.
    Doch das Mädchen verweigerte die Aussage. Zumindest erzählte sie nichts, was den geringsten Hinweis auf ihren Aufenthaltsort oder die Person, die bei ihr gewesen war, gegeben hätte. Vielmehr tat sie so, als wäre überhaupt nichts Dramatisches geschehen, als käme sie von einem Ausflug zurück, der ihr Freude bereitet und den sie freiwillig unternommen hatte. »Bist du am Meer gewesen?« hatte Fischer gefragt. Und sie, zustimmend: »Hmm.«
    »Warst du allein dort?« Sie schüttelte den Kopf.
    »Wer war mit dir am Meer?« Sie blinzelte, weil die Sonne sie blendete, sah Fischer an, griff nach dem Stoffelch, der in ihrem Schoß saß, und hob sein rechtes Vorderbein. »Der Elch war mit dir am Meer«, sagte Fischer. Und sie: »Hmm.«
    »Sonst niemand?« hatte Fischer weitergefragt und keine Antwort erhalten.
    Niemand hatte Katinka Schubart bisher mitgeteilt, daß ihre Mutter nicht mehr lebte.
    Ihr Vater bediente Kunden in dem Getränkeladen, vor dem Katinka und Fischer saßen. Sobeck hatte in der Burgstraße angerufen, nachdem sein Kind plötzlich aufgetaucht war. Wie er später gegenüber Fischer und Liz Sinkel erklärte – beide waren nach einer kurzen Vernehmung von Robert Gebirg aus Schild auf der Höh nach München zurückgefahren –, hatten er und seine Tochter kein einziges Wort gewechselt. Sie habe nur hallo gesagt, sich umgesehen und dann auf den Stuhl auf dem Bürgersteig gesetzt. In die Einkaufstasche, die sie bei sich trug, habe er nicht reingeschaut, betonte Heiner Sobeck. Wie Fischer feststellte, befanden sich Kinderunterwäsche und zwei T-Shirts darin, außerdem eine Sonnenmilch mit Schutzfaktor 30, eine Sonnencreme für Kinder, eine halbvolle Plastikflasche mit Maracujasaft, eine kleine rote Sonnenbrille und Sand. »Ich muß die Tasche mitnehmen«, hatte Fischer gesagt. Und Katinka, gleichmütig:
    »Okay.« Kurz darauf fuhr ein Streifenwagen vor. Fischer übergab die Sachen einem Kollegen, der sie im Labor der Spurensicherung ablieferte.
    Da das Mädchen einen unversehrten, verschlossenen, aber nicht bedrückten Eindruck vermittelte, wollte Fischer noch damit warten, sie zu einem Arzt und Psychologen zu bringen.
    Während Liz ein Polaroidfoto von Katinka machte – sie blickte in die Kamera, verzog keine Miene, rückte den Elch in ihrem Schoß zurecht, schlenkerte mit den Beinen – und das Bild anschließend Passanten zeigte, beobachtete Fischer das Mädchen und verwünschte seine Unbeholfenheit.
    Wenn er es mit Kindern zu tun bekam, neigte er zu mentalem Stottern: Er verhedderte sich in einem Knäuel von Gedanken, die den aktuellen Fall oft nur am Rande betrafen, ihn selbst dafür um so mehr. Dieser Zustand, den er nicht kontrollieren konnte, ärgerte und verunsicherte ihn und ließ ihn an seiner Professionalität zweifeln, was eine solche Wut in ihm auslöste, daß er zeitweise einen Zeugen wie einen

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