Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
und dadurch auch geschützt weiß. Während der diversen Exkursionen in die Stadt wird immer mehr klar, dass das Umhergehen eine Art Entgegenkommen für die überall verborgenen Ereignisse der Poesie ist, die der Erzähler sucht und für die er sich, indem er sie sucht, öffnet, und die er, indem er sich für sie öffnet, zugleich ermöglicht. So enthüllt sich im scheinbar planlosen Umhergehen eine immer konkreter werdende Absicht: Das Umhergehen soll Raum schaffen für den poetischen Zufall und die dichterische Konstellation, für das »ernste Spiel«, das dem Erzähler – inmitten der Zerstreuung in der Stadt – »für Augenblicke seine innere Unangefochtenheit zurückbringt«.
Ich lese Ihnen eine Passage aus der Feder-Episode vor:
»Eine halbe Stunde nach Ladenschluss leert sich die Innenstadt. Übrig bleiben Jugendliche (…), ein paar Spaziergänger und Betrunkene (…) In den breiten Eingangsbuchten der Kaufhäuser richten Obdachlose ihre Nachtlager. Hunde streichen umher und suchen in den Abfällen nach Nahrung. Da und dort übt ein Amateurmusiker. Vor mir auf dem Boden liegt eine Vogelfeder. Von einem Singvogel kann sie nicht sein, dafür ist sie zu groß. Wahrscheinlich hat eine Taube sie verloren. Dafür spricht auch die Farbe, ein durchgehendes Hellgrau (…) Der Kiel besteht aus einer sanft gebogenen weißen Linie, die offenbar noch kein einziges Mal beschmutzt war (…) Am schönsten ist die weich ausgefranste Spule am unteren Ende des Schafts, die aussieht wie der winzig verkleinerte Haarschopf eines Säuglings. Da kommt ein Windstoß und treibt die Feder (…) vor sich her. Ich bleibe stehen und verfolge ihre flache Flugbahn (…) Ich nehme die Feder am unteren Ende des Kiels und trage sie nach links in die kaum belebte Liebfrauenstraße (…) Ich werde die Feder auf dem Liebfrauenberg in der Nähe des Brunnens ablegen. Das Licht der Schaufenster fällt auf die Fahnen und wird matt gespiegelt. Ich bemerke eine junge Frau, die mich zurückhaltend beobachtet. Ich weiß nicht, was sie will, vermutlich nur die Feder. Sie achtet darauf, dass die Entfernung zwischen uns auf keinen Fall kleiner wird. Im Augenblick, als ich die Feder am Fuß eines Baumstamms niederlege, entdecke ich ein winziges Totenköpfchen, vielleicht der Schädel einer Maus, eines Igels oder eines Vogels. Im Nu wird aus der Feder, dem Blütenblatt und dem Grasstück der Schmuck einer offenen Grabstätte. Aus dem Totenköpfchen schauen mir kaum wahrnehmbare Augenhöhlen entgegen. Ich entferne mich rasch in Richtung Konstabler Wache. Durch eine spiegelnde Schaufensterscheibe kann ich sehen, wie sich die Frau der Feder nähert. Eine halbe Minute später kniet sie vor dem Baum. Hell leuchtet ihr Kleid.«
Das Buch »Leise singende Frauen« habe ich noch forsch einen »Roman« genannt, für »Das Licht brennt ein Loch in den Tag« habe ich mich das nicht mehr getraut. Denn in beiden Büchern hatte sich (strenggenommen) die Roman-Form aufgelöst, obwohl beide Bücher gleichwohl ein wichtiges Charakteristikum des Romans nach wie vor teilen, nämlich einen den Text zusammenhaltenden Erzähler und eine fortlaufende, romanähnliche Mitteilung. Beide Bücher sind auch thematisch miteinander verklammert. Noch immer ging es mir – wie schon im »Fleck«-Buch – um die Behauptung über as nicht mehr mögliche Individuum. In beiden Büchern konzedieren die Erzähler die Bedrohungen, die das moderne Subjekt einschüchtern, nicht mehr ein solches sein zu dürfen oder zu können. Aber durch die Wege, die sie gehen, und die Erlebnisse, die sie haben, werden sie dann doch ein Ich, wenn auch ein verstecktes, nicht triumphales, nicht kampfbereites, sondern eher flüchtiges und nicht sehr verteidigungsbereites Ich. Ich lese Ihnen aus »Leise singende Frauen« einen knappen Abschnitt vor, in dem die einschüchternde Stimmung thematisiert wird:
»Es liegen heute in den Straßen so viele Abfälle, alte Zeitungen, umgekippte und halb ausgeleerte Müllsäcke, Bierdosen, Plastikflaschen, Möbelteile und Lumpen herum, dass der Eindruck entsteht, die Welt hat sich über Nacht in einen riesigen Käfig verwandelt, der nicht mehr gereinigt wird (…) Ich (…) sehe an den trotzigen Zügen der Frauen und Männer, wie sehr sie ihr Käfigleben bedauern und wie sie alle auf ein großes Schiff warten, das sie weit weg tragen soll, ein Schiff, das nie kommen wird und das sie immer versäumen werden, ich sehe sie an und ich erkenne ihr freundliches Elend, das nie ganz
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