Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
und gar elend ist, sondern immer nur beinahe elend, manchmal fast schön elend, so dass es immer lohnend und hoffnungsvoll ist, noch eine Weile im Käfig auszuhalten und auf das Schiff zu warten (…)«
Der Erzähler in dem Band »Das Licht brennt ein Loch in den Tag« (1996 erschienen) nimmt zur Rekonstruktion seiner Ich-Werdung ein wichtiges, vielleicht das wichtigste Mittel zu Hilfe: seine Erinnerungen. Aber gerade von seinen Erinnerungen muss er feststellen, dass sie ihn zunehmend verlassen oder, was vielleicht noch ein wenig alarmierender ist, dass sie von Mal zu Mal unzuverlässiger werden. Betroffen nimmt er zur Kenntnis, dass die Erinnerungen selbst ihre Gestalt verändern und damit ihre Zuverlässigkeit einbüßen. Oft erinnert er sich an Ereignisse, die so nicht stattgefunden haben, oder er macht die Entdeckung, dass das, wovon er meint, es immer schon gekannt zu haben, in Wahrheit doch ganz anders war. Um einem weiteren Erinnerungsverlust vorzubeugen, schreibt er an Freunde und Freundinnen kurze und lange Briefe und macht sie mit einem neuartigen Projekt vertraut; an seinen Freund Christoph schreibt er:
»Du hast selbst schon oft darüber geklagt, wie sehr wir von Vergesslichkeit bedroht sind. Auch ich halte es für möglich, dass wir eines Tages ohne Erinnerung sein und vielleicht auch noch behaupten werden, wir hätten nichts erlebt und etwas Schönes schon gar nicht. Diese mögliche Leere ängstigt mich, und ich möchte mich vor ihr schützen. Ich habe mir deswegen folgendes ausgedacht: Ich verteile meine Erinnerungen, jedenfalls die mir unverzichtbar scheinenden, auf meine Freunde (…) Und eines Tages, wenn der Notfall da ist, das heißt, wenn ich mich selbst nicht mehr erinnere, solltest du mir alles, was du von mir gehört oder gelesen hast, zurückerzählen (…) Ich möchte auf die dann gut vorbereiteten Gedächtnisse meiner Freunde zurückgreifen können (…)«
Bald stellt sich heraus, dass der Erzähler nicht einfach Erinnerungen aufbewahrt wissen möchte, sondern irritierende, rätselhafte Ereignisse, die er selber fortlaufend umbaut und umformt, um hinter ihre verborgene Bedeutsamkeit zu kommen. Für ihn sind umgebaute Erinnerungen eine Art Versteck, dessen Ort sich unauffindbar »im Bewusstsein verbirgt«. Sein Konzept wird nicht von allen seinen Freunden gebilligt. Einer von ihnen hält Erinnerungen für unverrückbar, weil sie andernfalls ihre Authentizität (und damit ihre Wahrheit) verlieren; an ihn schreibt der Erzähler:
»Deine Vorstellung vom korrekten Erinnern ist mir zu streng (…) Im Grunde habe ich mich von der Idee getrennt, dass eine (…) wahrheitsgetreue Erinnerung ethischer und nützlicher ist als eine umgebaute (…) Dabei muss sich niemand anstrengen, Erinnerungen umzuordnen (…) Es genügt, das innere Fortsprechen der Ereignisse ernst zu nehmen und ihm zu folgen. Dieses nicht zu beschwichtigende innere Weiterreden bringt den Umbau der Erinnerungen von selber hervor (…) Erinnerungen sind Spielzeuge, die wir uns selber bauen (…)«
Ironie als Notausgang
Bamberger Vorlesungen 3
Bei Lesungen aus dem Roman »Ein Regenschirm für diesen Tag« erlebe ich immer wieder, dass das Publikum den Beruf des Romanhelden – er ist Schuhtester – für eine Fiktion hält. Der Mann arbeitet für eine Schuhfabrik, und seine Tätigkeit besteht darin, neu entwickelte Schuhe, die für die Serienproduktion vorgesehen sind, auf ihre Laufqualitäten und Trageeigenschaften hin zu prüfen. Über jedes geprüfte Paar Schuhe muss er einen genauen Bericht schreiben, der der Fabrikleitung helfen soll, sich für oder gegen eine Massenproduktion neuer Schuhe zu entscheiden. Das mag märchenhaft oder nach einer literarischen Sonderwelt klingen, ist aber ganz und gar realistisch. Ich selbst habe vor vielen Jahren in der FAZ das Stellenangebot »Schuhtester gesucht« entdeckt und habe mir den Zeitungsausschnitt aufbewahrt. Nicht weil ich damals einen Roman über einen Schuhtester schreiben wollte; auf diesen Gedanken bin ich erst sehr viel später gekommen. Sondern weil ich mich tatsächlich selber um einen Job als Schuhtester bewerben wollte, weil meine Einnahmen als Schriftsteller die Lebenskosten keineswegs deckten. Leider – ich weiß nicht warum – war meine Bewerbung nicht erfolgreich. Die Schuhfabrik äußerte sich nicht über die Gründe ihrer Ablehnung meiner Person als Schuhtester; sie schickte mir lediglich (kommentarlos) meine Bewerbungsunterlagen zurück. Ich weiß nicht, warum
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