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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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ich das Stellenangebot aus der FAZ daraufhin nicht wegwarf. Ich legte es in eine meiner zahlreichen Mappen, und dort überwinterte es etwa fünfundzwanzig Jahre lang. Eines Tages Ende der neunziger Jahre schlug ich die Mappe wieder auf, entdeckte das Stellenangebot wieder und hatte, wenn ich mich recht erinnere, eine (sagen wir) komische Epiphanie. Der Beruf des Schuhtesters hatte für mich plötzlich etwas, was er fünfundzwanzig Jahre davor nicht hatte, nämlich einen komödiantischen Beigeschmack. Wahrscheinlich war die heitere Nebenwirkung nur eine Hinzufügung meines Bewusstseins. Denn der Beruf des Schuhtesters ist gewiss eine ernsthafte Tätigkeit mit festen Regeln und einem verlässlichen Wissenshintergrund. Ich kann darüber nur Vermutungen anstellen; denn tatsächlich habe ich bis heute keinen leibhaftigen Schuhtester kennengelernt oder Berichte eines solchen in der Zeitung oder sonst wo gelesen. Jedenfalls berührte es meinen komischen Sinn, dass es einen Beruf gab, bei dessen Ausübung der Mensch (sozusagen) beim Spazierengehen sein Geld verdienen kann. In der Märchenliteratur gibt es viele Protagonisten, die ihr Dasein als Umhergeher verbringen; allerdings verdienen sie dabei kein Geld. Auch in der Romantik gibt es den einen oder anderen Helden, der sich als Fußgänger durchs Leben schlägt – und dieses dabei recht angenehm findet. Gibt es nicht ein Volkslied, dessen Anfang wir alle kennen und das als Manifest der Wanderer gelten kann? Ich meine: Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt. Sie ahnen, worauf ich hinauswill: Mit diesen Andeutungen war das Thema meines Romans »Ein Regenschirm für diesen Tag« plötzlich »da«. Mein Ich-Erzähler ist nur durch Zufall Schuhtester geworden. Er trifft einen ehemaligen Bekannten, der eigentlich Regisseur werden wollte, sich in diesem Beruf aber nicht halten konnte – und schließlich Vertreter einer Schuhfabrik wurde. Der Ex-Regisseur macht ihn auf den Beruf des Schuhtesters aufmerksam. Im Roman erfahren wir nicht, welchen Beruf der Schuhtester vorher hatte oder über welche besonderen Qualifikationen er verfügt. Das heißt: Der Schuhtester bewegt sich in einem Umfeld, für das später das Wort Prekariat geprägt wurde. Die Zeiten sind ungewiss, Geldverdienen ist schwierig geworden, und Berufe, die man einmal gelernt hat und die man dann ein Leben lang ausüben kann, gibt es immer weniger. Das heißt: der konventionelle Lebenslauf ist zu einer ironischen Erinnerung seiner selbst geworden. Die Suche nach der früheren, jetzt verschwundenen Geschlossenheit des berufsfixierten Lebens schiebt sich an die Stelle einer untergegangenen Existenzsicherheit, und das Gefühl, das für die Suchenden dabei entsteht, ist das Gefühl der Irritation, der Merkwürdigkeit. Eben deswegen sucht der Protagonist ein Wort für die »Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens«, das heißt nach einem Ausdruck für den merkwürdig gewordenen Alltag, der ihn zwingt, einer vielleicht halbseidenen Beschäftigung nachzugehen, obwohl ihn diese Beschäftigung weder zufriedenstellt noch hinreichend ernährt. Dabei geschieht eine eigenartige Verschiebung: Das Leben hat zwar seinen konventionellen Zusammenhang verloren, aber durch die Schilderung dieses täglich empfundenen Verlusts entsteht – ex negativo – ein neuer Zusammenhang, der genauso stark an den Lebensvollzug fixiert ist wie der frühere Konventionsalltag. Der Erzähler findet zahlreiche Wörter für die Gesamtmerkwürdigkeit, aber keines gefällt ihm so richtig. Ich will an einem Beispiel zeigen, wie Sie sich diese Vergeblichkeit vorstellen können. Einmal geht der Protagonist über eine Brücke, und dabei empfindet er die Gesamtmerkwürdigkeit so stark, dass er überlegt, ob er nicht seine Jacke ins Wasser hinabwerfen sollte. Die Jacke würde im Wasser treiben, um sie herum würde die Strömung herumschluppen und herumschlappen – und genau in diesen Naturbewegungen findet er die neuesten Wörter für die Merkwürdigkeiten des Lebens: das Geschluppe, das Geschlappe. Der Erzähler wirft seine Jacke nicht in das Wasser hinunter, und er weiß auch warum: Würde er es tun, wäre dieser Akt das Zeichen einer soeben eingetretenen Verrücktheit, und vor diesem Akt weiß er sich zu schützen. Im Roman steht an dieser Stelle der Satz: »Die Angst vor der Verrücktheit war immer nur die Angst vor der Kapitulation.« Es ergibt sich eine sich selbst fortzeugende Motivkette. Am Beginn des Romans – das heißt:

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