Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
seinen Anfang auslösend – steht der Verlust des Sinns durch das Verschwinden gesellschaftlich gegebener Arbeit. Dem Verlust folgt ein Sturz in eine als solche nicht gewollte Selbständigkeit. Eher durch Zufall wird der Mann Schuhtester. Das unabsichtliche Moment an dieser Selbständigkeit setzt Angst frei – und damit die Nähe zu (gelegentlich) pathologischen Selbstvergewisserungen. Um den Eindruck der Pathologisierung zu vertreiben, flieht der Protagonist in humoristische Verzerrungen seines Blicks und in parodistische Verfälschungen der gesellschaftlichen Tatsachen. Während eines geselligen Abends bei seiner Freundin Susanne rutscht der Erzähler so sehr in den Furor seiner Redelaune hinein, dass er plötzlich dafür plädiert, es müsse an den Universitäten endlich »Vergleichende Schuldwissenschaften« gelehrt werden. Natürlich stößt dieser absurd humoristisch-abwegige Vorschlag auf das Unverständnis der anderen Gäste, was den Erzähler nur antreibt, seine Vorstellungen ins Verstiegene zu erhöhen. Seine Not, die niemand erkennt, macht ihn unterhaltsam. »Verstehen Sie die Vergleichenden Schuldwissenschaften als historische Wissenschaft?«, fragt ein Herr Auheimer. Und der Erzähler antwortet: »Unter anderem, sage ich; wir alle leben in Ordnungen, die wir nicht erfunden haben, wir können nichts für diese Ordnungen, sie befremden uns. Sie befremden uns deswegen, weil wir merken, dass wir mit der Zeit die Schuld dieser Ordnungen übernehmen. Die faschistische Ordnung bringt faschistische Schuld hervor, die kommunistische Ordnung bringt kommunistische Schuld hervor, die kapitalistische Ordnung bringt kapitalistische Schuld hervor (…)« Es gelingt dem Erzähler, sich mit Hilfe seines rhetorischen Talents aus seiner Verwicklung wieder herauszureden – aber nur, um sich kurz darauf noch viel tiefer zu verstricken. Jetzt behauptet er (schon »ein wenig betrunken«), er sei der Leiter eines »Instituts für Gedächtnis- und Erlebniskunst«, und auch diese Erfindung sichert ihm sogleich das Interesse der anderen Gäste.
Frau Balkhausen, eine Tischnachbarin, findet das Institut für Erlebniskunst gleich »interessant«. Der Protagonist bedauert im Stillen seinen Scherz, aber Frau Balkhausen fragt schon nach, mit welchen Menschen er es im Institut zu tun habe. »Zu uns kommen Menschen, antworte ich unsicher und gleichzeitig routiniert, die das Gefühl haben, dass aus ihrem Leben nichts als ein langgezogener Regentag geworden ist und aus ihrem Körper nichts als der Regenschirm für diesen Tag.« Frau Balkhausen ist noch nicht zufrieden; »Sie helfen diesen Personen, ja?«, fragt sie. Und der Erzähler erklärt: »Wir versuchen, sage ich, diesen Leuten zu Erlebnissen zu verhelfen, die wieder etwas mit ihnen selber zu tun haben, jenseits von Fernsehen, Urlaub, Autobahn und Supermarkt (…)«
Auf diese stets ein wenig über die Ufer tretende Weise unterhält der Protagonist die Tischrunde. Er ist ein flatterig-fluktuierender Mensch, von dem nicht klar wird, was ihn umtreibt, was er eigentlich möchte und, vor allem, was er verbirgt. Zugegeben: Es ist schwer, ihm auf die Schliche zu kommen, weil er fast immer in Metaphern spricht, die eine erfundene Ersatzwelt illuminieren, damit seine reale Innenwelt verborgen bleibe: und seine Not mit ihr. Noch undurchsichtiger wird die Lage dadurch, dass der Erzähler (sozusagen) aus einem geheimnisvollen Hinterhalt zu sprechen scheint; nicht alles, was er sagt, ist unsinnig, und vieles von dem, was er sagt, ist von komischen Untertönen begleitet, die es unterhaltsam machen, ihm zuzuhören. Man kann auch sagen: Er hat das Talent, seine Melancholie durch Komik zu tarnen. Es ist nicht einfach, die Melancholie explizit dingfest zu machen; es ist nicht einmal ausgemacht, dass wir es stets mit Melancholie zu tun haben. Zuweilen handelt es sich (zum Beispiel) um Besinnung oder Selbstversunkenheit, die entsteht, wenn der Mensch über die Zeit hinaus Vorgänge in seiner Umgebung betrachtet – und dabei selbst ein wenig sonderlich wird. Die Melange zwischen Melancholie und Komik ist eine vom Erzähler selbst erfundene Überlebenstechnik. Komik ist leidfreie Zwiespältigkeit. Oder: Lachen ist die Erfindung einer Trennungszone zwischen einer zu aufdringlichen Realität und dem schutzbedürftigen Subjekt. Der Leser erkennt, dass die Paarung Melancholie versus Komik eine kompensierende Wirkung hat; das heißt, man sieht, dass die komische Wahrnehmung den Auftrag hat, die
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