Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
melancholischen Tendenzen nicht gar zu tief in die seelischen Bezirke des »Helden« vordringen zu lassen. Es liegt auf der Hand, dass die Protagonisten meiner Bücher Opfer von Kränkungen sind. Ich selbst, als Autor, durchschaue nicht völlig, wodurch sie oder durch welche biografischen Konstrukte sie eigentlich gekränkt sind – ob sie durch sich selbst gekränkt sind oder durch die Nötigungen des modernen Lebens oder durch ihre Biografie. Ich halte es für ein Kennzeichen der Moderne, dass die Menschen die Herkunft ihrer inneren Leiden nicht mehr feststellen können. Es ist durchaus keine Koketterie, wenn ich hier eingestehe, dass ich selbst nicht angeben kann, wovon der »Regenschirm«-Roman »eigentlich« handelt. Möglicherweise ist diese Unklarheit das Moderne an dem Buch. Der Anpassungsdruck zwingt uns dazu, mit den krankmachenden Zuständen auf eine Weise zu verwachsen, dass eine Anamnese unserer Beschwerden zunehmend unmöglich wird.
Man kann vielleicht formulieren: Der Protagonist des »Regenschirm«-Romans lebt in einem Dauer-Tagtraum. Die Details, die er beobachtet, sind nicht bloß äußerliche Daten. Der Erzähler setzt das Beobachtete häufig in eine persönliche Beziehung zu seiner Biografie. Außen- und Innenperspektive gehen fast immer nahtlos ineinander über. Man kann auch sagen: Die im Inneren der Figuren eingelagerte Biografie wird durch Zufuhr von Außenreizen lebendig und operationalisierbar. Auf diese Weise wird der Tagtraum zu einer Überlebens- und Alltagstechnik, die ich selbst mit meinen Protagonisten teile. Der Tagtraum ist eine Möglichkeit, vergleichsweise unbehelligt (und das heißt: souverän) durch widrige Zeitstrecken hindurchzufinden. Tagtraum bedeutet immer: eine Person ist ihren inneren Texten immer näher als den äußeren Realitäten, die gerade auf diese Person einwirken. Tagtraum heißt, jemand gibt sich seinen inneren Verfälschungen, Verzerrungen und Idiosynkrasien hin. Der Erzähltext, der dabei entsteht, ist der Text, den ein einzelner Erzähler einem einzelnen Zuhörer mitteilt, ohne jegliche spätere Korrektur, ohne jegliche Zensur, häufig auch ohne Dramaturgie, ohne Stil, ohne Pointe, ohne Effekte. Dafür ist der innere Tagtraumtext in der Regel aufregender als das meiste, was es in der sichtbaren Welt zu rezipieren gibt. Wenn ein Mensch den inneren Redestrom, den er frühmorgens beginnt und beim Schlafengehen häufig nicht beendet, weil der Tagtraum im Schlaf als Realtraum seine eigene Fortsetzung hervorbringt, wenn ein Mensch diesen Rede- und Traumstrom mit gewissen inneren Techniken versieht, ergibt sich daraus der Anflug einer Alltagsautonomie. Was ist gemeint mit: »gewisse Techniken«? Gemeint sind damit persönliche Zutaten, die dem Tagträumer aus seiner Innenwelt geläufig sind, vertraute Eigenschaften, die zu seinem Naturell gehören oder aus diesem hervorgehen. Zum Beispiel, in meinem Fall, eine Neigung zur ironischen Phantasterei, zur Komik, zum Humor. Ich nenne ein Konstruktionsbeispiel aus dem Roman »Ein Regenschirm für diesen Tag«. Der Erzähler leidet gerade an gewissen Verstimmungen, er schaut sich um und sucht nach Abhilfe. Dann lesen wir:
»Da kommt mir der Anblick eines etwa zehnjährigen Jungen zu Hilfe. Er betritt den Balkon eines Hauses in einer Seitenstraße und lässt eine an einer langen Schnur befestigte Kleiderbürste die Balkonbrüstung hinunterhängen. Eine Weile schwingt er die Bürste hin und her, dann hält er die Schnur an und wartet, bis die Bürste reglos hängt. Ich setze mich auf den Sockel einer Schaufensteranlage und betrachte die Bürste, die sich jetzt ganz langsam um sich selbst dreht. Der Junge tritt zurück in die Wohnung und schließt die Balkontür. Kurz darauf erscheint im Gardinenschlitz eines seitlich gelegenen Fensters das Gesicht des Jungen. Von dort betrachtet er die still hängende Kleiderbürste. Ich möchte so gleichmütig und ausgeglichen sein wie die Bürste und dann wohlwollend von mir selbst betrachtet werden. Ein paar Sekunden später muss ich über den vorigen Satz lachen. In Wahrheit bin ich dem Satz gleichzeitig dankbar. Er ist nur das Zeichen, dass ich mich habe beruhigen können. Ich glaube jetzt sogar, dass Teile der Ausgeglichenheit der Bürste auf mich selber übergehen. Ich rege mich im Augenblick nicht mehr darüber auf, dass ich nicht alles verstehe. Der orangefarbene Himmel wechselt erneut die Farbe. Über die Dachfirste schiebt sich ein Altrosa, das in der Höhe malvenfarbig wird. Ein
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