Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
verlangt von uns, dass wir Mutter und Vater lieben, und zwar gleichzeitig und stets heftig und ein Leben lang oder sogar länger. Wehe, wenn wir in der Liebe zum einen oder anderen nachlassen! Immer wieder frage ich mich, warum uns in dem einen Fall eine Doppelliebe möglich sein soll, während sie im anderen Fall untersagt ist. Mir jedenfalls ist das Bewusstsein dafür, dass mein Sexualleben polygam genannt wird und nach den herrschenden Auffassungen niederträchtig ist, im Laufe der Jahre abhandengekommen. Wenn ich längere Zeit mit nur einer Frau Umgang habe (weil Sandra verreist ist oder weil Judith alleine sein möchte), erleide ich prompt die Zustände der Verlassenheit und des Ausgeliefertseins, das heißt, es ergreift mich das Dauerleiden aller Monogamen (…)«
Die Stelle, die ich Ihnen soeben vorgelesen habe, ist auch noch aus einem anderen Grund wichtig. Ich habe gesagt: »Das Komödiantische ist das Unentscheidbare, und das Unentscheidbare wird ins Zentrum des Subjekts verlegt.« Eine solche Verlegung des Komödiantischen ins Subjekt haben wir hier vor uns. Der Erzähler vergleicht das Problem, dass er zwei Frauen gleichzeitig liebt und mit dieser Lage moralisch nicht fertig wird, mit einer anderen Doppelliebe, nämlich mit der Liebe zu den Eltern. Das heißt, er vergleicht eine anthropologisch unproblematische Voraussetzung – nämlich die Elternliebe, die es uns ohne Schwierigkeiten erlaubt, zwei Menschen gleichzeitig zu lieben – mit der aus freien Stücken gewählten und deswegen problematischen Doppelliebe zu zwei Frauen. Und er bemerkt nicht, dass er, indem er das Unvergleichbare dennoch miteinander vergleicht, das Komödiantische hervorbringt. Er glaubt, einen kühnen und vielleicht deswegen besonders schlagenden und einleuchtenden Denkschritt vollzogen zu haben – und hat doch nur seine Denkschwäche vorgeführt, die ihm nicht bewusst ist und nicht bewusst werden kann, weil eben diese surreal-komische Eigentümlichkeit ein Teil seines Subjekts ist, von der eine Trennung nicht möglich ist. In dieser Weise kann das Komödiantische in meinen Büchern verstanden werden: das Missverständnis ist ein Teil seines Bewusstseins, möglicherweise auch ein Teil seiner Gene; jedenfalls handelt es sich um Bauteile eines Bewusstseins, das ohne seine Fehler nicht arbeiten kann. Insofern gilt der Satz: Das Komödiantische ist das immer schon Unentschiedene und Unentscheidbare, man kann auch sagen: das Nichtwählbare. In gewisser Weise ähnelt das komische Sprechen meiner Romanfiguren dem komischen Sprechen mancher Kinder. Kinder wollen ja auch nicht absichtlich komisch sprechen. Das Komische unterläuft ihnen, weil sie die Regeln des richtigen Sprechens und des richtigen Wortgebrauchs noch nicht hinreichend kennen. Kinder merken auch nicht, dass sie soeben gerade wieder etwas Komisches gesagt haben. Man kann auch nicht sagen, dass sie »unfreiwillig komisch« sprechen; man müsste eigentlich sagen: sie sprechen zwangskomödiantisch. Das heißt: das Komische geht, wie bei manchen Erwachsenen, aus einem übertriebenen Ernst hervor – und wirkt gerade deswegen authentisch, eigentlich fast schon wieder un-komisch, im Kern tragisch. Weil wir merken, dass im Komischen etwas anderes verfehlt wird, etwas sehr Ernstes, nämlich das richtige Sprechen. Wir befinden uns jetzt in den Tiefenschichten des Komischen, das heißt in den Bereichen, in denen es schwerfällt zu entscheiden, ob das Komische nicht eher etwas Tragisches oder Trauriges ist. Erschwert wird die Frage nach dem Komischen dadurch, weil die komischen Quellen in unserem Bewusstsein unanschaulich sind. Es gibt keine Introspektion, die uns erlauben würde, Klarheit über die Auftrittsmomente unserer inneren komischen Regungen zu erlangen. Es kann niemand sagen, ob eine komische Empfindung – als Ursprungsmoment – eher heiter oder doch eher melancholisch angelegt ist. Diese Undeutlichkeit ist der Grund, warum es schwer ist, seriös über das Komische zu sprechen. Schon eher kann man etwas über die Wachstumsbedingungen des Komischen im Subjekt sagen. Fast immer ist es ein idiosynkratisches Ich, welches das Komische als Fluchtweg vor sich selbst irgendwann entdeckt und dann immer mehr schätzt. Das idiosynkratische Ich braucht keine Erlebnisse, um sich selbst als problematisch zu empfinden. Es spürt in zahlreichen Details den Riss zwischen Ich und Welt, dem es (in der Regel) ohne Gegenwehr ausgesetzt ist. Es gilt, diesen Riss zwischen Ich und Welt zu
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