Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
schließen, was meinen Romanhelden fast immer schwerfällt, weil ihnen die Kräfte für solche übergreifenden Vermittlungsakte fehlen. Um über ein solches Leben schreiben zu können, muss sich ein Autor die Form einer passenden Romanhaftigkeit erfinden. Romanhaftigkeit ist eine Ähnlichkeitsform; in sie ordnet der Autor diejenigen Anteile des zu beschreibenden Lebens ein, die (ohne Schaden zu nehmen) eine besondere Akzentuierung vertragen, konventionell gesagt: die der Autor in der Darstellung übertreiben kann. Die Ähnlichkeitsform für die »Liebesblödigkeit« war (ist) die komödiantische Erzählung. Sie war nötig, weil durch sie einsichtig wird, dass die Lebensnot des Protagonisten von ihm selber nicht »behandelt« werden kann.
Der Erzähler ist ein Situationist; er ist nur mangelhaft vernunftgeleitet, dafür mehr lustgesteuert, ohne sich dieser Verteilung der Innenkräfte hinreichend bewusst zu sein. Genau so – das heißt ohne Vorsatz: durch Zufall – ist er Liebhaber zweier Frauen geworden, und muss nun mit seinen mangelhaften, auch mangelhaften intellektuellen Möglichkeiten sehen, zu einer lebbaren Form zurückzukehren. Man kann sagen: Durch die Beigabe des komischen Erzählens verliert sich endlich die Original-Schüchternheit des Erzählers. Durch die komischen Aspekte des Erzählens entsteht zuweilen die Illusion, er sei schon immer komisch gewesen. Als hätte er von Anfang an gewusst, dass er die Handlungen seines Lebens erst nach deren komischem Finale würde verstehen können. Mir fällt ein Satz von Kierkegaard ein: Das Leben wird nach vorne gelebt und nach hinten verstanden. Wobei wir hinzufügen müssen, dass auch das Nach-hinten-Verstehen keineswegs gesichert ist. Wir haben die Psychoanalyse erfunden, damit wenigstens das Nach-hinten-Verstehen einigermaßen garantiert ist. Wer je mit einem Psychoanalytiker gesprochen hat, wird wissen, dass das Nach-hinten-Verstehen der Lebensgeschichte nur bei Patienten mit günstigen Voraussetzungen funktioniert. Die drei wichtigsten Voraussetzungen dieses Verstehens sind: Analytische Kompetenz, Sprachfähigkeit, Deutungskompetenz, das heißt umfassende Bildung nach allen Seiten hin. Genau diese Fähigkeiten brauchen wir allerdings auch dann, wenn wir ohne die Mithilfe eines Analytikers, das heißt als nackte Verstehensamateure, den Zusammenhang unseres Lebens begreifen wollen.
Der Roman als Delirium
Bamberger Vorlesungen 4
In meinem bisher letzten Roman »Das Glück in glücksfernen Zeiten« verstrickt sich der Erzähler in ein Erlebnis, das für ihn typisch ist. Seine alte Mütze, die seiner Lebensgefährtin Traudel schon seit längerer Zeit nicht mehr gefällt, tauscht er in der Mützen-Abteilung eines Kaufhauses gegen eine neue ein. Das heißt, er schleicht in der Mützen-Abteilung umher, wartet eine günstige Situation ab, nimmt die von ihm am meisten begehrte Mütze an sich und legt dafür seine eigene, alte Mütze an deren Stelle. Er entkommt unbehelligt, wird der neuen Mütze aber dann doch nicht froh. Kaum hat er das Kaufhaus verlassen, wird er Opfer seiner Phantasien; er glaubt plötzlich, ein sogenannter Sicherheitsdienst des Kaufhauses habe ihn heimlich beobachtet und seine Verfolgung aufgenommen. Tatsächlich betritt er nach einiger Zeit das Kaufhaus erneut, legt (wieder unbeobachtet) die von ihm gestohlene neue Mütze zurück in das Mützenregal, nimmt seine eigene alte Mütze wieder an sich und verlässt das Kaufhaus. Was ihn zu diesem Rücktausch veranlasst, war weder Angst noch ein Schuldgefühl, auch nicht das Bedürfnis nach einer neuen Mütze, sondern ein – Überfall seines unverhältnismäßig starken Schamgefühls. Im Roman lesen wir dazu diese Sätze:
»In einem Meer ichfremder Augenblicke drohe ich unterzugehen. Ich schäme mich und warte darauf, dass ich sofort sterbe. Im Kern meiner Scham haust die spürbare Verkleinerung meines Lebens. Ich schrumpfe innerlich auf die Kindergröße einer verkohlten Leiche. Ich kenne meine Scham und weiß seit langer Zeit, dass sie immer eine Anspielung auf meinen Tod ist. Wenn ich mich genug geschämt habe, werde ich befreit sterben dürfen. Dieser Augenblick scheint mir jetzt gekommen. Obwohl ich gehe, zerfalle ich. Körperteile fallen von mir ab, ich sehe sie zurückbleiben, während ich gehe. Ich bin gespannt, wie lange ich mich auf den Beinen halten kann.«
Ich mache Sie besonders aufmerksam auf die beiden Sätze: »Obwohl ich gehe, zerfalle ich. Körperteile fallen von mir ab, ich
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