Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
sehe sie zurückbleiben, während ich gehe.« Genau dieser unwahrscheinliche Fall: dass ein lebender Mensch Körperteile verliert und dennoch unbehelligt weiterlebt, ist das Thema des zuvor geschriebenen Romans »Mittelmäßiges Heimweh«, der 2007 erstmals erschien. Zu Beginn des Romans sehen wir die Hauptfigur, einen offenkundig in Frankfurt arbeitenden Controller, wie er ein wenig unschlüssig seinen Feierabend verbringt und schließlich eine Kneipe betritt, in der ein Fernsehapparat eingeschaltet ist. Zur Zeit finden die Fußball-Europameisterschaften statt, auf dem Bildschirm läuft das Spiel Deutschland-Tschechien. Und dann passiert es: Der Controller verliert im Lärm und Getümmel der Fußball-Kneipe ein Ohr. Er sieht das abgefallene Körperteil auf dem Boden liegen. Die fiebernden Fußball-Zuschauer sehen es nicht. Den Controller erfasst Panik, er verlässt das Lokal und geht nach Hause – beziehungsweise in sein Apartment, das er – ein wenig notgedrungen – als sein Zuhause empfindet. Denn »eigentlich« lebt er mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter im Schwarzwald, wo es für ihn aber kein hinreichend finanzielles Auskommen gibt; nur deswegen arbeitet er die Woche über in Frankfurt. Das tut er auch weiterhin; er geht, mehr aus Scham, in die Apotheke und kauft eine Ohrklappe. Über den Grund des Verlusts des Ohrs werden im Roman keine Angaben gemacht. Es handelt sich um ein phantastisches Geschehen, das mit realistischen Erklärungen nicht aufgehellt werden kann. Der Roman bietet keine Deutung des Körperteilverlusts an. Auch dieser Verzicht hängt mit dem Genre des phantastischen Romans zusammen. Es gibt auf diesem Gebiet kaum Texte, die zum Vergleich tauglich wären. Ich kenne nur eine einzige Erzählung, die sich mit meinem Entwurf berührt: »Die Nase« von Gogol. Auch in diesem Text verliert ein Mann – ohne Vorwarnung und ohne Begründung – einen Körperteil, in diesem Fall seine Nase. Bei Gogol trägt der Verlust eher komödiantische Züge. Nur auf der Ebene einer Komödie ist es möglich, dass der Held nach einiger Zeit seine Nase wiederfindet und sie sich kurzerhand ins Gesicht zurücksteckt, wo sie verblüffenderweise auch haftenbleibt. Im Fall meines Romans ist der Verlust des Ohrs endgültig. Der Erzähler beginnt sich mit dem Verlust dauerhaft zu arrangieren. Was ihn viel mehr beschäftigt als der Verlust ist der Lebensschreck, der mit dem Verlust einhergeht. Es gibt im Verlauf des Textes keine Erklärung des Vorgangs, jedenfalls nicht explizit und nicht naturalistisch. Am Ende des Buches entdeckt der Erzähler zufällig, wie ein Kind, das im Sandkasten eines Spielplatzes spielt, seinen Daumen verliert. Die Mutter des Kindes reagiert mit entsetzten Schreien, das Kind wird von Sanitätern ins Krankenhaus transportiert, der Daumen bleibt im Sandkasten zurück. Am folgenden Tag erscheint in der Tageszeitung eine kleine Meldung mit der Überschrift: Kind verliert Daumen. Das heißt: In dieser Meldung ist der Schrecken des Ereignisses bereits integriert und neutralisiert. Ebendieser Vorgang – die Neutralisierung der Schrecken – hat mich damals interessiert. Ich fand (und finde) es beeindruckend, dass unsere Gesellschaft über neu eintretendes Entsetzen nur relativ kurze Zeit erschrickt, und dann dazu übergeht, das neu eingetretene Entsetzen als Teil des empirischen Bestands des »Lebens« aufzunehmen und nicht weiter bemerkenswert zu finden. Vorbild dieser Beobachtung war (und ist) der Umgang mit AIDS. Über Jahre hin habe ich (wie viele von uns) die Ausbreitung dieser Krankheit beobachtet und war beunruhigt über die Hilflosigkeit der Abwehr. Inzwischen ist AIDS sozusagen »akzeptiert« und ins allgemeine Krankheitsgeschehen eingebaut. Man kann auch sagen: der Umgang mit der Krankheit wird privatisiert. Genau das macht auch mein Protagonist im Roman. An einer Stelle heißt es: »Einmal schaue ich aus Zufall in einen Spiegel. Dass mir ein Ohr fehlt, erfreut mich plötzlich, weil ich mit einem fehlenden Ohr und einer Ohrklappe meinem Vater nicht mehr so stark ähnele wie früher.« Der Erzähler scheut sich nicht, seine aktuelle Beschädigung mit einem privaten, individualpsychologischen Affekt in Beziehung zu setzen: Der Verlust des Ohrs taugt immerhin dazu, sein altes inneres Leiden (die Ähnlichkeit mit seinem Vater) zu mindern. Das heißt, das Leiden wird mit einer privaten Befindlichkeit verrechnet und damit banalisiert, und das wiederum heißt: ein allgemeines, öffentliches
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