Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
zwischendurch mutet uns die Erzählerin Einzelsätze zu, die wir in den Romantext nicht problemlos einordnen können. Einer von ihnen lautet: »Der Schmerz ist in der Schwebe, wenn eine Verkäuferin lautlos eine Schublade herauszieht.« Wenn wir in einem erzählenden Text auf einen einzelnen dichterischen Satz stoßen, merken wir deutlich, dass in diesem Augenblick ein Tempowechsel von uns verlangt wird. Die Qualität eines dichterischen Satzes macht aus einem Romanleser plötzlich einen Gedichtleser. Denn wir können über einen dichterischen Satz nicht so einfach hinweglesen wie über einen »nur« erzählenden Satz. Einen einzelnen dichterischen Satz müssen wir auch einzeln verstehen.
»Der Schmerz ist in der Schwebe, wenn eine Verkäuferin lautlos eine Schublade herauszieht.« Wir erkennen rasch: die Hauptfrechheit des Satzes ist die Behauptung, dass eine Schublade mit einem Schmerz etwas zu schaffen haben soll. Und zwar in den Augenblicken, wenn eine Verkäuferin eine Schublade lautlos herauszieht. Ich versuche mich an einer (vorläufigen) Auslegung. Wir nähern uns dem Satz vom Aspekt der Lautlosigkeit her. Auch der Schmerz in uns ist lautlos. Wir stellen uns (vorübergehend) den menschlichen Körper als ein Schmerzdepot vor. Dann und wann kommt ein Schmerz aus seinem Körperversteck hervor, schmerzt seinen Träger und verschwindet wieder im Depot der Körperorgane. Von hier aus können wir leicht auf die Idee kommen, unser Körper habe Schubladen, die herausgezogen werden können, damit die darin aufbewahrten Schmerzen dann und wann besichtigt werden können, zum Beispiel von einem Arzt. Schubladen gehören (zusammen mit Koffern, Etuis, Taschen) zum Grundrepertoire poetischer Imagination. Durch den Umgang mit (realen) Schubladen nehmen wir teil an den poetischen Verfahren der Aufspeicherung der Dinge mit Poesie. In jeder Schublade sammeln sich Überbleibsel, die oft über Jahre hin an der Grenze ihrer Vernichtung entlangexistieren, die dann aber, durch einen plötzlichen Gedächtnisumschwung ihrer Benutzer, augenblicksweise wertvoll erscheinen. Genau diese Wertkippe, auf deren Scheitel die Dinge überleben, macht sie poetisch. Insofern sind Schubladen immer auch kleine unerkannte Museen der eigentlich schon verschwundenen, dann aber doch nicht verschwindenden Dinge. An die Drohung des finalen Verschwindens erinnert unmerklich die Gestalt der Schublade selber. Denn eine Schublade hat die Form eines immerzu offenen Kleingrabs, das stets benutzbar ist: Man kann Dinge darin begraben, und man kann die schon begrabenen Dinge wieder herausnehmen und wie etwas Lebendiges wieder anschauen. Es entsteht dabei die Praxis einer sich selbst endlos transformierenden Poesie: Etwas Totes aus seinem Zeitgrab herausnehmen und genau in diesen Augenblicken den Schauer der Zeit spüren, in der Wertloses neue Wertschichten angelegt hat, die zu entdecken das menschliche Auge viel Zeit braucht. Jeder, der Schubladen immer wieder herauszieht und eigentlich ziellos in sie hineinschaut, ist eine Art Totengräber, der entdeckt hat, dass die Trennungen von den Dingen dann doch nicht endgültig sind. Denn die in den Schubladen sanft verwahrlosenden Dinge speichern die Zeit, sie halten Zeit fest, sie geben Zeit preis und streuen, durch ihr Betrachtet-Werden, neue Zeit aus. Insofern befinden sich die Schmerzen in der Schublade tatsächlich in einer fortlaufenden Schwebe; sie schwirren und gespenstern umher, erschrecken uns und geben uns im Schreck die Gewissheit, dass sie unsere Unruhe nicht besänftigen werden.
Von Virginia Woolfs Satz geht eine starke Suggestion aus. Nur durch eine sprachliche Fügung – das Zusammenfließen von Schmerz und Schublade – sind wir plötzlich überzeugt, dass die beiden schon immer zusammengehört haben. Leider haben wir bis heute keine Bedeutungstheorie der Wörter und Begriffe. Insofern können wir nicht begründen, ob die beiden Wörter Schmerz und Schublade ontisch oder sprachlogisch tatsächlich eine Beziehung untereinander haben. Vermutlich ist eine Bedeutungstheorie der Wörter und Begriffe überhaupt unmöglich, weil Wörtern nur instabile Bedeutungen zugeschrieben werden können – wenn man einmal von gewissen Elementarwörtern (wie Tisch, Stuhl, Haus, Bett und so weiter) absieht. Deswegen wird es wahrscheinlich so bleiben, wie es in diesem Fall wieder einmal ist: Einerseits erkennen wir in Virginia Woolfs Satz die wundersame Bezeichnungskraft der Wörter, andererseits erkennen wir gleichzeitig
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