Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Desaster wird endgültig auf ein individuelles Abenteuer reduziert und damit aus der allgemeinen Aufmerksamkeit herausgenommen. Dieses Szenario ähnelt der Entschärfung von AIDS; man kann sagen: der allgemeine Schrecken wird auf Kosten des einzelnen vergleichgültigt.
Dem Roman »Mittelmäßiges Heimweh« fehlt alles Komödiantische. Er ist eine Recherche über das öffentliche Bewusstsein im Augenblick seiner Herausforderung. Der Binnenwitz, der da und dort aufscheint, nimmt deswegen – allenfalls – zynische Formen an. Der Erzähler ist der erste und letzte Adressat seines Leidens. Er stellt verblüfft fest, dass sich niemand für seine Erkrankung interessiert. Er ist jetzt ein Mann, der dauerhaft eine Ohrklappe trägt – mehr ist über ihn, jedenfalls von außen, nicht zu sagen. Nicht einmal seine Frau zeigt ein weitergehendes Bedürfnis, sich über seine Lage kundig zu machen. Seine Frau wohnt (zusammen mit dem Kind) einige hundert Kilometer von ihm entfernt im Schwarzwald. Sie ist hauptsächlich damit beschäftigt, ihre Enttäuschung über den Verlauf ihrer Ehe zu verarbeiten. Diese Desillusionierung ist für sie so dominant, dass sie für eine Einfühlung in die Lage ihres Mannes keinen Spielraum übrighat. Die Entfremdung zwischen den beiden Eheleuten läuft (sozusagen naturwüchsig) auf eine baldige Scheidung hinaus. Die Faktografie des Romans erweist diesen als ein sozialkritisches Buch. Nicht wenige Leser (und Kritiker) waren über »Mittelmäßiges Heimweh« überrascht. Viele verstanden nicht, wie ein derart irritierender Roman direkt auf die »Liebesblödigkeit« folgen konnte, die zwei Jahre zuvor, 2005, erschienen war. Viele Beobachter waren der Meinung, dass ich mit der »Liebesblödigkeit« sozusagen meinen endgültigen Durchbruch zum komödiantischen Roman gefunden hätte. Ich selbst hatte diese Erwartung nicht. Ich wusste schon aus der früheren Beobachtung meines Werks, dass ich keine Teleologie eines logisch fortschreitenden Werks verfolgte, sondern – wenn man das so sagen kann – eher den zufälligen Impulsen meines inneren Bewusstseins gehorchte. Man kann, mein Werk betrachtend, allenfalls zu der Beobachtung gelangen, dass es eine Art Pendelbewegung einerseits zwischen sogenannten »ernsten«, sozialkritischen Büchern und, andererseits, zu leichteren, nicht engagierten, ironischen, individualistischen Werken gibt. Wobei ich sogleich hinzufügen muss, dass man sich diese Pendelbewegung nicht als eine sich selbst treu bleibende Struktur vorstellen sollte, sondern dass es innerhalb des Rhythmus der Pendelbewegung auch viele Brüche und Zäsuren gibt, die von der stets schwer abschätzbaren Dynamik des Schriftstellerberufs selbst herrühren. Der Beruf des Schriftstellers ist eine kryptische Bewegung voller Anfänge, Wiederholungen, Versagungen – und den rätselhaften Pausen dazwischen, vor denen sich der Autor am meisten fürchtet, weil stets unbekannt bleibt, zu welchem Ergebnis eine Pause führt, wenn es ein Ergebnis überhaupt gibt. Aufgrund der Ziel-Unsicherheit des Schreibens können Schriftsteller keine Produktionspläne machen. Sie hangeln sich von Buch zu Buch, manchmal auch nur von Absicht zu Absicht, von Projekt zu Projekt. Ich nehme an, dass diese Ungewissheit auf die Schreibprodukte selber abfärbt.
Insofern ähnelt jeder moderne Roman, der durch seine Gestalt Kunstanspruch erhebt, einem sanften Delirium, dessen Baugesetze niemand vollständig kennt, auch der Autor nicht. Der Eindruck des Deliriums entsteht, weil die Autoren in ihrem Erzähltext mindestens zwei Satztypen untereinander mischen, die – »eigentlich« – nichts miteinander zu tun haben. Der erste Satztyp bringt den Erzähltext selber hervor, der mit kognitiven Mitteln eine Ereignisfolge darstellt, die sich mit kognitiven Mitteln auch verstehen lässt. In diesen realistischen Fließtext streut der Erzähler einzelne Ausnahmesätze ein, deren Verständnis unser realistisches Vermögen übersteigt. Wir wissen oft nicht, was wir mit diesen Fremdlingen im Text machen sollen. Wir verstehen die vor uns ausgebreitete Geschichte, aber wir sperren uns vor einzelnen exotischen Sentenzen, die nicht wirklich erzählen, sondern – auf metaphysische Weise – das Erzählte reflektieren.
Ich nenne ein Beispiel. In dem Roman »Die Wellen« von Virginia Woolf treffen sechs Personen zusammen, die an markanten Punkten ihrer Biografien angelangt sind und von diesen berichten. Ihre Lebensdarstellungen sind konventionell, aber
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