Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
die tiefere und absolute Sprachlosigkeit aller Literatur.
Was ich hier, am Beispiel eines einzelnen Satzes von Virginia Woolf, erzählerisch auseinandergenommen habe, kann in diesem aufgelösten, didaktischen Zustand natürlich nicht im Fließtext eines Romans auftauchen. Ein moderner Autor muss das, was er/sie poetisch ausdrücken möchte, in einen kühnen Satz verpacken und dabei sowohl die »normale« Aussagenlogik der Sprache als auch das Regelwerk von Subjekt, Prädikat, Objekt momentweise vergessen. Der Autor nimmt dabei das Risiko auf sich, dass der von ihm konstruierte Satz aufgrund seiner Eigenlogik zu abstrakt ausfällt und sich dem schnellen Verstehen entzieht. Der besondere, poetische Satz tritt als Überrumpelungsversuch des Lesers auf und möchte auch mit besonderem Aufwand rezipiert werden. Ich lese Ihnen einen Abschnitt aus dem Roman »Mittelmäßiges Heimweh« vor, in dem wir ein anderes, wenn auch ähnliches poetisches Prinzip beobachten:
»Im Bad erleide ich einen Einsamkeitsanfall. Ein Seifenrest löst ihn aus. Das Seifenstückchen liegt klein und hellgrün auf dem Rand der Badewanne und stört mein Empfinden. Aus dem Schrank hole ich ein neues Stück Seife. Weiß, oval und frisch liegt die neue Seife auf dem Badewannenrand und strahlt Zuversicht aus. Wie so oft erschrecke ich mit Verspätung. Das Wort Scheidung, von mir selbst ausgesprochen, schiebt mich in diesen Augenblicken in einen selbsterschaffenen Raum des Grauens. Noch während ich mir die Zähne putze, fällt mir ein, dass es vielleicht nicht der Seifenrest war, der mein Einsamkeitsgefühl hervorrief. Das kleine Stück Seife hatte nur die Erinnerung an das etwa gleich große Stück Butter ausgelöst, das bei uns zu Hause stets im Kühlschrank lag. Vater und meine schon erwachsene Schwester kamen damals von der Arbeit zurück nach Hause und fanden die Schränke leer. Mutter lag unansprechbar und schluchzend im Bett und hatte (wie so oft) nichts eingekauft, obwohl sie dazu den ganzen Tag Zeit gehabt hatte. Der müde Vater und die Schwester mussten noch einmal losgehen und das Allernötigste für ein Abendbrot einkaufen. Allerdings waren um diese Zeit die Geschäfte geschlossen. Vater übernahm den Gang zum Lebensmittelhändler, die Schwester machte sich auf den Weg zum Bäcker. Sie stöhnte und schimpfte laut darüber, dass sie jetzt an der Tür der Privatwohnung des Bäckers klingeln musste, um noch ein Brot zu bekommen. Es dauerte fast eine Stunde, bis Vater und die Schwester zurückkehrten und endlich ein improvisiertes Abendbrot auf dem Tisch stand. Das dann niemand recht schmeckte, weil wir uns immerzu stumm fragten, warum denn die Mutter so gelähmt war (…)«
Wieder bildet sich – ähnlich wie bei Virginia Woolf zwischen der Verkäuferin, einer Schublade, einem Schmerz und der Schwebe, die sich zwischen allem zeigt – eine Art Stafette zwischen den Dingen mit einem Schmerz an deren Ende. In »Mittelmäßiges Heimweh« ist es ein Seifenrest auf dem Badewannenrand, der den Erzähler an einen Butterrest erinnert, der Butterrest leitet die Spur zurück in die Kindheit, die insofern schwierig war, weil der Erzähler in deren Kern eine Mutter erinnert, die (jedenfalls nach Meinung des Erzählers) ihre Rolle nicht hat finden oder nicht hat ausfüllen können. In beiden Erzählzusammenhängen gibt es offenbar eine lose Verknüpfung zwischen den Dingen, die durch die Arbeit des Bewusstseins hergestellt wird. Man kann auch sagen: Die Einzelobjekte sind Substitute, die ihren Wahrheitsanteil untereinander so lange weiterreichen, bis sie beim Erzähler zu einer inneren Epiphanie über seinen Lebenszusammenhang werden. Es gehört zur Methode meiner Bücher, dass der Erzähler durch seine Phantasiearbeit die Einzelheiten seiner Wahrnehmung miteinander verknüpft und dadurch eine Art Tiefendimension frei wird. Es entsteht dabei ein subjektiver Kosmos, der sich als ein vom Subjekt hergestellter über die Dinge legt und diese dadurch nicht nur erträglich werden, sondern auch noch einen Reflexionszusammenhang stiften. »Eigentlich« unpoetische Objekte und Personen – eine Schublade, eine Verkäuferin, ein Badewannenrand, ein Seifenrest – nehmen gegen die allgemeine menschliche Erwartung poetische Qualitäten an. Die Poetisierung geht nicht vom Gegenstand aus, sondern vom Blick dessen, der die Gegenstände anschaut. Unser Auge ist ein Transformator; es verwandelt, was es sieht, es beleiht die Gegenstände mit den poetischen Gemütswerten
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