Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
dessen, der schaut. Dieser Wandel – das heißt die Verlagerung des poetischen Erregungsmoments vom Objekt ins betrachtende Subjekt – ist vermutlich die bedeutendste Verschiebung in der Moderne. Im Kulturbetrieb gibt es ja immer noch zahlreiche Menschen, die, wenn sie das Wort Poesie hören, entweder an Eichendorffs »Mondnacht«, an die »Mutter Erde« von Hölderlin oder wenigstens an die goldenen Kelche von Trakl denken. Die Modernitätsverweigerer wollen nicht hinnehmen, dass das Poetische sein Subjekt gewechselt hat, das heißt praktisch, dass es die Provinzen des Alltags erobert hat und weiter erobert. Oder, anders gesagt, es gibt keine Sonderwelten mehr, für die eine besondere poetische Prädestination beansprucht werden kann. Oder, positiv ausgedrückt: Es gibt keine Poesie-Reservate mehr; in der Moderne ist jeder Gegenstand poetisierbar.
Wenn ich mich nicht irre, befinde ich mich derzeit erneut in einem Zyklus-Wechsel, der aufregender und dramatischer ist als jeder Zyklus-Wechsel davor, weil er sich rasanter und unmittelbarer vollzieht und, wegen seines hohen Tempos, sich nicht hinreichend genug betrachten und reflektieren lässt. Ich habe mich gewundert, dass ich mit meinen beiden letzten Büchern, ich meine: »Mittelmäßiges Heimweh« (2007) und der in diesem Jahr erschienene Roman »Das Glück in glücksfernen Zeiten«, noch einmal zurückgekehrt bin zum realistischen Roman, wobei »Mittelmäßiges Heimweh« gewiss nicht nur realistisch ist, sondern auch einen gewissen surrealistischen Anteil hat. Dafür steht »Das Glück in glücksfernen Zeiten« sozusagen zu hundert Prozent in der Ahnenreihe des deutschen kritischen Zeitromans. Mit kritischem Zeitroman meine ich die Herkunftslinie: Heinrich Mann – Hans Fallada – Lion Feuchtwanger – Alfred Döblin – Erich Kästner. Natürlich ist »Das Glück in glücksfernen Zeiten« nicht nur eine Fortschreibung mit den traditionell gegebenen Mitteln. Der Glücks-Roman ist ein Versuch, die Außen- und die Innenperspektive eines Protagonisten so miteinander und ineinander zu verschmelzen, dass wir nicht nur die äußerlich sichtbaren Umrisse der Handlungen einer Figur sehen können, sondern ebenso die inneren Zwänge, die im Bewusstsein der Figur die Handlungen ausgelöst haben.
Das heißt, der Glücks-Roman ist ein neuer Anlauf, im Roman den gläsernen Menschen zu erschaffen, eine Konstruktion dessen, was uns nicht einsichtig ist: erstens eine Nachbildung der Kräfte, die einen Menschen in psychischer Hinsicht steuern, und zweitens eine Nachbildung der äußerlichen, sozialen Zwänge, die auf die psychischen Gegebenheiten eines Menschen antworten – und ihn damit auch gefährden. Gerhard Warlich, der »Held«, hat, wie er anfangs glaubt, beste soziale Voraussetzungen, um in unserer komplexen Wirklichkeit eine gute Figur zu machen. Er ist akademisch gebildeter Philosoph (mit einer Promotion über Heidegger) und insofern hervorragend geeignet, unserer Gesellschaft das zu vermitteln, woran es dieser am meisten mangelt, nämlich Selbsttransparenz, kritische Distanz, philosophische Erleuchtung. Um sein Studium zu finanzieren, hat sich Warlich von Anfang an als Ausfahrer einer Großwäscherei betätigt. Im Verlauf von Warlichs Jugend verschiebt sich das Parallelogramm der Kräfte immer mehr. Seine Vorstellung, als Philosoph an einer Universität Karriere zu machen, verflüchtigt sich zunehmend und löst sich bald ganz auf. Auch ein anderes Arbeitsfeld, auf dem ein Philosoph gebraucht werden könnte, lässt sich nicht finden. Es stellt sich heraus, dass ein Philosophiestudium in unserer Gesellschaft genau das ist, was Warlichs Doktorvater prophezeit hatte: »Bildungslametta« – ein Glitzerzeug, das niemand wirklich braucht. Im Gegenzug zeigt sich, dass Warlich immer tiefer in das unternehmerische Profil eines Wäscherei-Managers einsteigt. In dem Betrieb, in dem er als Student als Ausfahrer angefangen hatte, wird er schließlich Geschäftsführer beziehungsweise Organisationsleiter. Noch immer, auch im 21. Jahrhundert, zeigt das bürgerliche oder das kleinbürgerliche Leben seine Krallen: es versagt sich den Wünschen seiner Liebhaber. Oder, weniger dramatisch ausgedrückt, nämlich mit einem Lieblingszitat aus Italo Svevos Roman »Zeno Cosini«: »Das Leben ist weder hässlich noch schön, es ist originell.«
Die bloße Originalität der Versagung kann Warlich nicht wirklich trösten. Er kann nicht ablassen von seinem Wunsch, als Philosoph durchs Leben zu
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