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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Aber wie können wir über Autoren etwas herausfinden?
    Schriftsteller sind abwesend. Was Klappentexte, Nachworte oder Rezensionen über sie mitteilen, bleibt hinter unserem Verlangen nach Aufklärung weit zurück. Erst nach dem Tod des Autors kann mit weiteren Aufschlüssen gerechnet werden. Aber auch dann dauert es oft noch Jahrzehnte, bis endlich Tagebücher, Briefbände oder Erinnerungen von dritten erscheinen. So lange kann ein von fremder Anrührung bewegter Leser nicht warten. Was bleibt ihm, was tut er oder sie bis dahin? Er verschiebt sein Interesse (die erste Verschiebung bewegte sich vom Text auf den Autor) ein weiteres Mal, diesmal vom Autor auf das Bild des Autors.
    Denn Autorenfotos können, so spekuliert der Leser, der Aufhellung der Beziehungen zwischen dem Leben des Textes und dem Leben des Lesers dienen. Ein verständiger Leser ahnt ohnehin, dass Schriftsteller immer auch etwas zurückbehalten, Details der eigenen Lebenswelt und Erfahrung, oft winzige, aber wichtige Zwischenstücke, die durch ihre eigene Unscheinbarkeit vor Entdeckung geschützt sind. Aber vielleicht stellen sich diese verborgenen Hinweise sozusagen selber aus, womöglich gegen den Willen der Autoren: nämlich auf deren Abbildern, die wir nur genau genug zu lesen haben. Was der Text verbirgt, enthüllt ohne Absicht – vielleicht – das Foto.
    Ihren unvergleichlichen Rang gewinnen Fotos aus ihrem zweifachen Status, der sie in gewisser Weise anderen Kunstwerken überlegen macht: Sie sind sowohl Artefakte als auch Dokumente. Artefakte sind sie, weil es eines ästhetisch agierenden Fotografen bedarf, der ein Bild, ehe er es »macht«, vorher als Kunstbild »sehen« muss. Und sie sind zugleich Dokumente, weil jedes Foto, trotz seiner ästhetischen Zurichtung, einen hohen dokumentarischen Anteil bewahrt, der von keinem Fotografen ausgeschaltet werden kann. Wir können Fotos deswegen (mit Begriffen des Sozialphilosophen Alfred Schütz) als »Kundgabeakte« begreifen, als »gesetzte Zeichen«, die auf unsere Auslegung fixiert sind.
    Es sind vermischte, zuweilen unseriöse Informationen, die der spekulierende, Fotos betrachtende Leser erwartet, Informationen, die weit über das hinausgehen, was in der Germanistik die ästhetische Erschließung des Textes heißt. Denn der durch Textnähe beunruhigte Leser will mehr wissen: nämlich, wenn es gutgeht, den Grund der Vertrautheit des Textes mit seiner eigenen Innenwelt. Sein Verstehensziel heißt: Wie ist der Autor zur besonderen Tiefe seiner Einsicht und damit meinem eigenen Selbstverstehen so nahe gekommen? Welche biografischen oder leib-seelischen Schaltungen müssen wir in den Blick nehmen, um (zum Beispiel) die Verkoppelung eines Werks mit einem bestimmten Stoffkreis rekonstruieren zu können? Und können Fotos Hinweise stiften für eine solche, vielleicht zu entwerfende Theorie der Affinität zwischen Autor und Werk?
    Ein Beispiel für eine solche Affinität, die nur aufgrund von Foto-Porträts möglich ist, können wir mit Hilfe der Abbilder von Franz Kafka fixieren. Die Fotos, die es von diesem Autor gibt, kann man in zwei Sorten unterteilen. Die erste Sorte, die in der Überzahl ist, zeigt Kafka mit strengem Mittelscheitel. Auf der zweiten Sorte von Bildern, von der es nur wenige Beispiele gibt, sehen wir den Autor ohne Mittelscheitel; sie sind die freieren, die menschlicheren, die privaten. Es fehlt ihnen das Erschreckte, das Panische, das fledermausartig In-die-Enge-Gedrückte, das wir von den meisten Kafka-Bildnissen kennen. Und wir sehen – auf den wenigen Fotos ohne Mittelscheitel – Kafkas ungebändigten, dichten Haarwuchs, der der damals vorherrschenden Form des fotografischen Herrenporträts nicht verpflichtet ist. Auf den Fotos mit Mittelscheitel ist Kafkas Haar dagegen streng und straff nach links und rechts gekämmt und überdies feucht und glänzend pomadisiert. Wir erkennen das zurechtgestutzte, gelackte und offen unterdrückende Moment des kleinbürgerlich geduckten Daseins, unter dem Kafka sein kurzes Leben lang gelitten hat. Der Mittelscheitel ist so exakt und makellos ausgeführt, dass die Kopfhaut darunter als weiße Linie erscheint und unserem Assoziationsvermögen die Idee einer Spaltung nahelegt oder eingibt. Mit ein wenig Phantasie können wir die Spaltungslinie des Mittelscheitels nach vorne verlängern und sie in der Verlaufsform der Nase fortgesetzt finden, die – mit scharfem Kamm – das Gesicht genauso teilt wie der Mittelscheitel den Kopf.
    Mit diesen

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