Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Assoziationen ist es plötzlich einleuchtend, sich unter dem Hauptproblem des abgebildeten Mannes eine innere Aufspaltung und die dazugehörige Zerrissenheit vorzustellen, die zu Kafkas Lebzeiten um so besser verborgen bleiben konnte, weil der Mittelscheitel in den zwanziger und dreißiger Jahren ein verbreitetes Zeichen für bürgerliche Wohlsituiertheit war. Wer diese Spur einmal aufgenommen hat, stellt dann auch bald fest, dass die Selbstdarstellungen mit Mittelscheitel sozusagen Kafkas offizielle Erscheinungsweise waren. Mit Mittelscheitel ließ er sich aus Anlass der Promotion abbilden; wir sehen den Mittelscheitel auf Pass- und Bewerbungsfotos; wir sehen ihn auf Bildern, die Kafka als Beamter der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt Prag benötigt hat; wir erkennen ihn auf dem Verlobungsfoto an der Seite von Felice Bauer; wir sehen ihn auf einem Schülerbild zu Anfang seiner Gymnasialzeit; und wir sehen ihn auf einem Bild aus dem Jahre 1914, aus Kafkas ernstester und angespanntester Lebensphase, zur Zeit der Niederschrift des »Prozess«. Es ist das unruhigste und die Unruhe zugleich verbergendste Bild, das es von Kafka gibt: Mit steinernem Ernst blickt er seinem schwierigsten Anliegen, dem Schreiben, in das nicht fixierbare Auge. Im Gegensatz dazu sind die Fotos ohne Mittelscheitel erkennbar Bilder ohne Anlass und also auch ohne Nötigung zur Repräsentation. Sie zeigen einen gelassenen, entspannten jungen Mann, der aussieht wie andere junge Männer auch, ein Mensch ohne erkennbare Zwanghaftigkeit. Am 10. Juni 1914 schrieb Kafka an seine Schwester Ottla diese Zeilen: »Ich schreibe anders als ich rede, ich rede anders als ich denke, ich denke anders als ich denken soll und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel.«
Beschreibt der Autor in diesen drei Zeilen nicht selbst die tiefe Spaltung, die wir zuvor, freilich nur anhand von Bildzeichen, festgestellt haben? Die Spaltung gilt auf drei Ebenen: auf der des Schreibens, des Redens und des Denkens. Es handelt sich dabei nicht um eine Spaltung im klinischen Sinn, also nicht um Schizophrenie, die das Subjekt schubweise paralysiert bis hin zur vollkommenen Ich-Auflösung. Sondern um eine geistig empfundene Spaltung zwischen Sein und Sollen, um den Riss, der durch uns alle hindurchgeht und den wir (je nach Temperament) intellektuell verschärfen oder vollständig verdrängen beziehungsweise leugnen können. Wir dürfen behaupten: Der Mittelscheitel ist das Zeichen des Risses; an ihm können wir wenn nicht erkennen, so doch ahnen, wovon sein Träger bestimmt ist. Unter den Kafka-Fotos gibt es ein besonders eindrucksvolles, ein Kinderbild, das entstand, als Kafka sechs Jahre alt war. Walter Benjamin hat dieses Foto in seinem 1931 erstmals erschienenen Aufsatz »Kleine Geschichte der Fotografie« ein Bild von »uferloser Trauer« genannt und es so beschrieben:
»Da steht in einem engen, gleichsam demütigenden, mit Posamenten überladenen Kinderanzug der ungefähr sechsjährige Knabe in einer Art von Wintergartenlandschaft. Palmenwedel starren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolsterten Tropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modell in der Linken einen unmäßig großen Hut mit breiter Krempe, wie ihn Spanier haben. Gewiss, dass es in diesem Arrangement verschwände, wenn nicht die unermesslich traurigen Augen diese ihnen vorbestimmte Landschaft beherrschen würden.«
Was Walter Benjamin nicht gesehen hat oder nicht beachtenswert fand: Dieses Kinderbild ist das erste, auf dem wir Kafkas Bildmale erstmals erkennen können, und zwar beide zugleich. Einerseits zeigt der Knabe den vollen, ungekämmten Haarwuchs; andererseits sehen wir in der Mitte der Stirn das erste Anzeichen des zukünftigen Mittelscheitels, weil sich genau dort das dichte Kinderhaar nach links und nach rechts zu teilen beginnt und weil sich in dieser Teilung eine bildhafte Vorwegnahme der künftigen Konflikterfahrung Kafkas andeutet. Die »unermesslich traurigen Augen«, von denen Walter Benjamin gesprochen hat, sind dann der unbewusste Ausdruck für eine zu erwartende Spaltungsidentität, die der Sechsjährige zwar weder fassen noch ahnen kann, die er aber gleichwohl schon ausdrückt. Das heißt: Wir, Franz Kafkas spätere Leser, die wir sein Leben längst genauso schätzen wie sein Werk, wir als fremde und nachträgliche Betrachter erkennen das mit hoher Wahrscheinlichkeit existenzbestimmende Zeichen nur deswegen, weil es auf einem Kinderfoto Bildmale gibt, die sich mit
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