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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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gehen und als Philosoph sein Geld zu verdienen. Immer mal wieder schleicht er sich aus seinem Berufsleben heraus und sucht das alte Philosophische Seminar der Universität auf, wo er sich vor vielen Jahren einmal wohl gefühlt hatte. Von seiner Lebensgefährtin Traudel wird er deswegen gerügt. Sie hält ihm vor, dass ein »so gebildeter« und realitätstüchtiger Mensch wie er die Welten besser trennen können müsste. Was Traudel hervorbringt, sind Erwartungsprofile des »vernünftigen« Menschen, der Warlichs Scheitern an der Wirklichkeit nicht versteht und deswegen auch nicht hinnehmen kann. De facto gibt es Zeichen genug, die darauf hindeuten, dass Warlich mit zunehmendem Realitätsverlust fertig werden muss – und eben nicht fertig wird. Der Realitätsverlust bildet sich in phantastischen Projekten ab, die den Wirklichkeitsverlust schon vollzogen haben. So besucht Warlich eines schönen Nachmittags das Büro des Kulturamtsleiters der Stadt und unterbreitet ihm sein Projekt einer »Schule der Besänftigung«. Hauptsächlich gelehrt werden soll in dieser neuartigen Schule Warlichs besondere Sehnsucht nach einem »Halbtagsleben«. Seiner Meinung nach ist es ausreichend, wenn die Menschen nur morgens leben und arbeiten müssen und sich nachmittags von den morgendlichen Verausgabungen ausruhen. Es kommt im Kulturamt zu keiner besonders präzisen Vorstellung seines Projekts. Der Chef des Kulturamts missversteht Warlichs Projekt vollständig. Er macht ihn darauf aufmerksam, dass »Schule der Besänftigung« eine altmodische, wenn nicht vorgestrige Bezeichnung sei, und schlägt vor, Warlichs Projekt doch lieber gleich eine Pop-Akademie zu nennen. Größer könnte das Missverständnis kaum sein. Aber die Stadt ist immerhin bereit, günstige Räume für Warlichs Schule zur Verfügung zu stellen, was Warlich trotz des Missverständnisses für kooperativ hält. Auch Traudel hat keine Antenne für Warlichs um sich greifende Bodenlosigkeit. Sie kann ihm nicht nur nicht helfen, sondern erkennt nicht einmal die auch für ihn neue, die psychische Ebene seines Leidens. Es kommt zu einer schmerzlichen Abspaltung Warlichs von der Wirklichkeit. Traudel selbst ist es, die ihn in der ihnen gemeinsamen Ratlosigkeit in eine psychiatrische Klinik fährt.

Das Bild des Autors ist der
Roman des Lesers
     
    Lange bevor ich einen Text von Walter Benjamin las, kannte ich Fotos von ihm. Immer wieder war dieser schwarzgelockte Kopf mit dem melancholisch verhangenen Gesicht in Prospekten und Literaturblättern abgebildet gewesen; und obgleich es sich um Porträts verschiedener Fotografen handelte, blieb Benjamin bei der gleichen Gesichts- und Kopfhaltung. Der Körper erscheint leicht vornübergebeugt, der Kopf ein wenig nach vorne versetzt. Der Blick ist meist nach unten gerichtet. Der Mund ist geschlossen und ernst. Und (das wichtigste Detail): Benjamins Kopf sehen wir als abgestützten Kopf. Mal ist es die linke Hand, mal die rechte, in der das Kinn ruht. Auf einigen Fotos fasst sich Benjamin sogar an den Hinterkopf, dorthin also, wo das Gehirn sitzt, als wollte er den Eindruck noch verstärken, der sich ohnehin schon eingestellt hat. Auch wenn wir nicht wissen, worüber dieser Autor nachgedacht hat, so sind wir aufgrund seiner Abbildungen doch schon sicher, dass es sich um schwierige, sich nicht rasch erschließende Texte handeln muss. Es scheint sich um einen labyrinthischen Autor zu handeln, der vielleicht deswegen so selten aufblickt, weil er seinen Lesern auf keinen Fall die Täuschung vermitteln wollte, er wenigstens wisse, wo sich der Ausgang des Denk-Labyrinths befindet, in dem er lebt. Wir können fragen: Geht von Benjamins verschlossenen Porträts nicht (bis heute) eine Leser-Abwehr aus? Ich nehme an, dass viele Betrachter über das Unlustgefühl einer befürchteten Lese-Anstrengung angesichts dieser Fotos nicht hinauskommen – und dass Benjamins Fotos insofern die Schwierigkeiten des Werks objektiv ausdrücken: Seine Mühe ist quasi ins Gesicht vorverlegt.
    So ähnlich, wie wir Kindern sagen, wenn sie etwas gestehen sollen: Ich seh’s dir an der Nasenspitze an – so meinen wir, schon in den Gesichtern vieler Autoren lesen zu können, was sie geschrieben haben. Bei einigen von ihnen (etwa bei Fallada, auch bei Kafka) kündigen sogar schon die Gesichter der Eltern an, mit welchen Stoffen sich die Söhne später schreibend auseinandersetzen werden. Schauen wir uns nur diesen überaus robusten Hermann Kafka an, dann ahnen wir doch

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