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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Bildmalen auf anderen Fotos zu einem Code zusammenschließen lassen, der den Mittelscheitel zur Metapher eines Lebensromans macht. Das Faszinierende der Bildmitteilung besteht also in einer paradoxen Verschränkung und spielerischen Selbstaufhebung von Zeit: Wir erkennen nachträglich , was in einer vergangenen Zeit die Zukunft eines Menschen bestimmt hat und wozu der Betroffene selbst, ohne davon wissen zu können, die Fingerzeige liefert: Franz Kafka wächst auf diesem Kinderfoto in seine Lebensspannung hinein, weiß von diesem Auftakt selbst nichts und stellt ihn trotzdem, als Zeichen, präzise dar.
    Aus diesem Widerspruch erklärt sich der Status eines Autorenfotos: Es bleibt ein außerliterarischer Kommentar zur Entstehung des Werks, der dennoch, sozusagen vorliterarisch, in das Zentrum der Affinität des Autors vordringt. Der Leser dechiffriert diesen Selbstkommentar und erkennt in ihm das Phantasma der Anziehung zwischen Werk und Leser. Die Bilder des Autors erhellen auf diese Weise die Genese eines fremden Schreibens, sie sind aber zugleich Teile eines entstehenden privaten Leserromans, den sich der Rezipient selbst erschafft, um das Schweigen des Autors mehr und mehr zu brechen. Denn der Leser ist eine haltlose Instanz. Er folgt dem Text als dem Medium seiner Selbstverständigung, das heißt, er folgt einer Lust, von der er nicht wollen kann, dass sie je zu Ende geht. Deswegen kann er auch nicht wollen, dass ein von ihm geliebter Roman jemals auf seiner unwiderruflich letzten Seite ankommt. Rückt dieses Ende dennoch näher, dann muss der Leser beginnen, sich dieses Stück Literatur noch einmal und noch einmal zu erzählen, und zwar von neu errungenen Positionen aus, die um das je neu hinzugekommene Wissen um die Lebensgeschichte des Autors bereichert sind. Dazu benutzt er alles Material, das sich auftreiben lässt, und mischt es in den Kammern seiner Einbildungskraft so lange, bis ein neuer, der Roman des Lesers entstanden ist. Der Leserroman ist ein Reflexionsgebilde von ganz eigenen Gnaden; er wächst seinerseits mit der Lebensgeschichte des Lesers mehr und mehr zusammen und überwölbt diese als eine Art Texthimmel, dessen (selbstkonstruierte) Erschließungskraft, Weite und Unaufhörlichkeit den Leser nicht mehr verlassen werden.
    Kant hat die Einbildungskraft so definiert: »Einbildungskraft ist die blinde, obgleich unentbehrliche Funktion der Seele, ohne die wir keine Erkenntnisse haben würden.« In diesem Satz kommen die beiden entscheidenden Worte vor, ohne die es keinen Leserroman geben kann: Blindheit und Unentbehrlichkeit. Die Blindheit ermächtigt und befähigt uns zu Eingebungen, die wie seriöses Wissen aussehen. Wir beachten dabei nicht die kälteste Wahrheit, die von jedem Foto ausgeht, die Wahrheit nämlich, dass wir immer nur Betrachter sind, weiter nichts. Wir wissen nichts, es fällt uns immer nur etwas ein. Jede weitere Ableitung geht auf das Konto der Einbildungskraft des Leserroman-Autors. Der Leser möchte die Herrschaft des literarischen Scheins beenden – und setzt diese Herrschaft doch nur fort. Anders gesagt: Jede Abbildung fordert unsere Phantasie heraus – zugunsten unserer eindrucksvollen Blindheit, die uns sehend macht. Fotos spekulieren gleichsam mit einem inneren Wissen in uns, das sie nur abrufen müssen, und zwar in hochkonzentrierten Zeichen. Die äußeren Bilder zeigen auf etwas in unserem Inneren, und indem sie das tun, berühren sie unser Sprachzentrum, das die Bilder nicht ziehen lässt, ohne sie mit einem Text versehen zu haben. »Ich beobachte den Beobachter in mir. Ich höre zu, was das von mir Gesehene mir oder sich selbst sagt« (Paul Valéry).
    Es gibt ein kaum bekanntes Foto von Sigmund Freud, das um das Jahr 1930 herum entstanden ist. Freud steht hinter dem geschlossenen Fenster seiner Wiener Wohnung in der Berggasse 19. Seine linke Schulter ist gegen den Fensterrahmen gelehnt, der Kopf ist ein wenig nach vorne gebeugt. Von der Straße aus ist Freud nicht zu sehen. Nur wir, die Betrachter des Fotos, können in Freud jemanden erkennen, der aus einer Position der besorgten Verstecktheit heraus auf die Straße herabschaut. Wir sehen sein Gesicht im Halbprofil. Sein Blick ist konzentriert auf die Vorgänge in der Berggasse gerichtet, der Mund ist geschlossen, die Lippen angespannt, die Mundwinkel nach unten gezogen. So schaut jemand, der ein gewisses Unbehagen ausdrücken will, ohne angeben zu können, wo dieses herrührt und worum es sich eigentlich sorgt. Es

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